Abdulrazak Gurnah: “Das verlorene Paradies”

Abdulrazak Gurnah: "Das verlorene Paradies"

Blass getünchte, unentschiedene Sehnsucht nach einem Paradies, das keines war.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Mit John Miltons „Paradise Lost” hat Abdulrazak Gurnahs Roman wenig zu tun. Passagen lyrischer Naturbeschreibungen, Stürme, Entwurzlungen dahingestellt, liegt ein prosaischer Text über Menschenhandel, Schuld und Sühne, über Einsamkeit, Mutlosigkeit und Verzweiflung eines Tansanias unter teilweiser Deutscher Besatzung vor. Von geschliffenem Stil kann keine Rede sein. Bruchstücke emotionaler Entfremdung zersplittern das Sittengemälde einer zerrütteten Nation.

„Schwere Düfte aus uralter Zeit hingen in der Luft, und aus den auf der Straße vor dem Haus aufgestellten Messingtöpfen stiegen Weihrauchschwaden auf. Sie überlagerten die Dünste der abgedeckten Abflussrinnen in der Mitte der Straße. Die Prozession, die der Braut das Geleit gab, wurde von zwei Männern angeführt, die eine große grüne Laterne in Form eines zwiebelförmigen Palastes mit einer Unmenge Kuppeln trugen.“

In dem Roman mischen sich nebeneinander ornamentale, fast barocke Landschaftsbilder mit in kurzen Sätzen unempathisch verfassten zwischenmenschlichen Tragödien. Gurnah gelingt es zu keinem Zeitpunkt im ganzen Roman nicht, diese Ebenen miteinander zu verweben, seinen Protagonisten Yusuf in die Welt eintauchen zu lassen, ihn in der Welt mit der Welt zu verbinden und das Erleben der Welt begreiflich werden zu lassen. Erstaunlicherweise erscheinen Passagen deshalb gewollt, wie Kollagen, wie umredigierte, unzusammenhängende Absätze, die sich zu keinem Ganzen zusammenfügen. Wird der von Yusuf beobachtete qualvolle Tod einer Frau nüchtern und protokollsatzartig wie folgt beschrieben:

„Am Spätnachmittag kamen sie schließlich an den Fluss, und als sie auf dem unbewachsenen Uferstreifen standen, sahen sie, wie eine Frau, die ins Wasser gewatet war, von einem Krokodil angegriffen wurde. Die Dorfbewohner und die Reisenden hasteten zu der Stelle, wo der Kampf stattfand, konnten sie aber nicht retten.“

So bricht das nüchterne Berichten plötzlich prunkvoll aus, nur weil Yusuf eine Bahnhofsstation erreicht:

„Kleine Gehölze knorriger Dornbüsche sprenkelten die Ebene, die vereinzelte Aufwölbungen schwarzer Felsen mit dunklen Flecken durchzogen. Wogen von Hitze und Dunst stiegen von der glühenden Erde auf, drangen Yusuf in den Mund und ließen ihn nach Atem ringen. Bei einer Station, an der sie lange hielten, blühte ein vereinzelter Jakarandabaum. Malvenfarbene und purpurne Blütenblätter bedeckten den Boden wie ein schillernder Teppich.“

Das ist nicht nur seltsam. Das ist stilistisch unbefriedigend und mindert in einem unberechenbaren Hü-und-Hott stark das Leseerlebnis. Das Sittengemälde eines armen, von Gewalt beherrschten Landes wird unentschieden beschrieben und leider nur teilweise eindrucksvoll in Szene gesetzt. Der Beobachter bleibt freischwebend und unbeteiligt. Die auktoriale Erzählweise lässt an Empathie missen, und am Ende steht man vor verschlossenen Türen und bleibt ratlos wie die in dem Buch beschriebenen Ehefrauen und Töchter Tansanias hilflos zurück.

Jean-Marie Gustave Le Clézio in „Die Wüste“, Gustave Flaubert in „Salambo“, J.M. Coetzee in „Schande“ oder Elias Canetti „Die Stimmen von Marrakesch“ lassen vielmehr von den Zerrüttungen erahnen, mit denen die Menschen in Afrika konfrontiert sind. Mich hat „Das verlorene Paradies“ vom ehemaligen Literaturprofessor Abdulrazak Gurnah maßlos enttäuscht.

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