Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Annie Ernaux: „Das andere Mädchen“

Vom Leben mit Gespenstern und einer Sprache, die Trauer in Trost und Zuversicht wandelt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Gespenster existieren auf viele verschiedene Weisen. Zumeist existieren sie in Form einer Erzählung, bspw. als Gruselgeschichten, die am Lagerfeuer erzählt werden, während die abgeschatteten Feuerzungen um einen herum tanzen. Annie Ernaux schreibt ihre eigene Gespenstergeschichte. „Das andere Mädchen“ ist ein langer Brief zu einem sehr kurzen Abschied an eine Schwester, die vor der Geburt der Ich-Erzählerin gestorben ist. Sie kennt das Mädchen, das einst ihre Schwester gewesen ist, nur von wenigen, sehr verblichenen Fotos:

„In der Ferne ein großes Gebäude, auf dem »La Méditerranée« steht, ein paar konturlose Gestalten bewegen sich darauf zu. Die Festtagskleidung der drei [Vater, Mutter, Kind] steht im Kontrast zu der leicht trostlosen Umgebung, einem industriell geprägten Stadtviertel. Das Foto wurde 1937 in Le Havre aufgenommen. Du bist fünf Jahre alt. Du hast noch ein Jahr zu leben.“

Das „Du“ in Ernaux‘ Roman richtet sich an die verstorbene Schwester, die sie nie kennengelernt hat und über die die gemeinsamen Eltern auch nie geredet haben. Die ältere Schwester bleibt der jüngeren zeitlebens ein Rätsel, ein Rätsel auch, dass die Eltern nie von dem verstorbenen Kind reden, dass sie von der Existenz dieses anderen Mädchen nur zufällig hörte, als sie die Mutter bei einem Gespräch über den Gartenzaun belauschte. Sie war zehn.

„Die Erzählung, die ich mit angehört habe, war die erste und letzte. Die beiden [Vater und Mutter] haben nie mit mir über dich gesprochen, weder er noch sie.“

Die verstorbene Schwester, die einer Diphterie-Epidemie zum Opfer fiel, lebte nur sechs Jahre. In der Erinnerung scheinen der Ich-Erzählerin diese Jahre als die glücklichsten der Eltern, die insgesamt eine unglückliche Ehe führten. Der Schrecken, eine Tochter verloren zu haben, saß vielleicht zu tief. Sie verdrängten, so gut sie konnten, die Erinnerungen an das verstorbene Kind. Doch die Erinnerung graben sich in ihre Verhaltensweise, exprimieren sich in den Gesten und Gebärden, bleiben als unartikulierte Bedeutungshorizonte zwischen den Familienmitgliedern bestehen. Eine dunkle Wahrheit hängt über ihren Köpfen:

„Ich scheine keine Sprache für dich zu finden, keine Worte, ich kann nicht anders von dir sprechen als im Modus der Negation, des Nichtseins. Du stehst außerhalb der Sprache von Empfindungen und Gefühlen. Du bist die Anti-Sprache.“

Die Schwester lebt als Gespenst fort und bedrückt die Familie. In den Skizzen, kleinen Ansprachen, in den Bemühungen, ihrer Schwester näher zu kommen, die zum Scheitern verurteilt sind, erhascht die Ich-Erzählerin ein Stück Autonomie zurück. Sie verfügt über einen eigenen Zugang, eine persönliche Trauer, ein intensives Bedauern. Sie weiß mit ihrer Schwester nichts anzufangen, aber sie akzeptiert ihre Existenz und findet Trost in dem Gedanken, das die Schwester für das Publikum so real und irreal bleiben wie sie selbst, so dass sie wenigstens in der Form der Erzählung eine Existenzform teilen können:

„Selbstverständlich ist dieser Brief nicht an dich gerichtet, und du wirst ihn nicht lesen. Andere Menschen, Leserinnen und Leser, die beim Schreiben für mich genauso unsichtbar sind wie du, werden ihn in den Händen halten. Trotzdem gibt es in mir einen Rest magischen Denkens, und so stelle ich mir vor, er könnte dich auf irgendeinem verschlungenen Weg erreichen, auf demselben Weg vielleicht, wie mich an jenem fernen Sommersonntag […] die Nachricht von deiner Existenz erreichte, durch eine Erzählung, die ebenfalls nicht an mich gerichtet war.“

Von den Rätseln unvollständiger Geschichten, vom Imaginären und Unausgesprochenem, von den unbewältigten Schmerzen und Träumen und Bedauern schreibt Annie Ernaux in „Das andere Mädchen“ gerade durch die Stille und Schweigsamkeit der Ich-Erzählerin hindurch einen sanften Versuch, Frieden mit einer Realität zu schließen, in der nicht alles perfekt ist noch war, aber sein könnte. In ihrem Roman lebt die Utopie, dass einmal alle Wunden verheilen könnten. Nur wenige Romane schaffen es, Trauer in Zuversicht zu wandeln. Annie Ernaux‘ Roman gehört dazu, wie auch Helga Schuberts „Vom Aufstehen“ oder Claude Simons „Das Gras“ oder in letzter Zeit Irvin D. und Marilyn Yalom in

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