Annie Ernaux: „Das Ereignis“

Annie Ernaux "Das Ereignis"

Ungeschönt und nackt der Sprache ausgeliefert: Ein Paradigmenwechsel der Literatur.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Authentizität als literarische Form erfordert ein gewisses Maß an Masochismus. Alte Wunden werden ungeschönt hervorgeholt. Sie werden dargeboten und preisgegeben, um sie Tür und Tor für Urteile und Bewertungen und Diskussionen zu öffnen. In „Das Ereignis“ thematisiert Annie Ernaux schonungslos das Thema Schwangerschaftsabbruch zu einer Zeit in Frankreich, die 1960er Jahre, in der jede Form des erzwungenen Schwangerschaftsabbruches unter Strafe gestanden hat:

„Dass die Form, in der ich die Abtreibung erlebt habe – die Illegalität – der Vergangenheit angehört, ist für mich kein triftiger Grund, diese Erfahrung unter Verschluss zu halten – auch wenn ein gerechtes Gesetz die früheren Opfer paradoxerweise fast immer mundtot macht, im Namen von »es ist alles längst vorbei«, sodass das Geschehene weiter totgeschwiegen wird.“

Vorbei ist jedoch nichts. In Kalendereintragungen und Tagebuchnotizen erinnert sich ein Erzähl-Ich an sein früheres Ich, reflektiert von der Gegenwart aus in die Vergangenheit hinein, und versucht dem erlittenen Schmerz angemessenen Ausdruck zu verleihen. Die verflossene Zeit, die veränderten Bedingungen entfremden aber das Erzähl-Ich vom erzählten Ich. Ein tiefer Abgrund trennt sie. Das erzählte Ich steht wie ein Schatten seiner selbst vor dem Erzähl-Ich, wird wie eine Marionette hinter ihm hergezogen und verweigert den Zugang.

„Ich ahne, dass es [der Kontrollverlust] genauso sein wird, wenn dieses Buch fertig ist. Meine Entschlossenheit, meine Bemühungen, die ganze Arbeit, die ich unauffällig, sogar heimlich, tue, denn niemand weiß, worüber ich schreibe, all das wird auf einen Schlag verschwunden sein. Ich werde keinerlei Macht mehr über meinen Text haben, er wird zur Schau gestellt werden wie damals mein Körper im Krankenhaus.“

Oder wie die Ausgeliefertheit des erzählten Ich der Beschreibung dem Erzähl-Ich gegenüber. Die Getrenntheit der Zeitebenen zeichnet den Schmerz nach. Es gelingt keine Versöhnung. Das erzählte Ich findet keinen Zugang. Alles verbleibt im Ungewissen. Von Beweisen, Sicherheit ist nirgendwo im Text die Rede. Schemen des Schmerzens überlagern sich. Scham, Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, nirgendwo Unterstützung zu finden, kulminieren in einem Rezitativ, der nur Versatzstücke präsentiert, kaum Erzählfluss zulässt, der aber vor dem Hintergrund eines allgegenwärtigen Schmerzes und einer selbstauferlegten Schuld seine Einheit findet.

„Vor einer Woche habe ich mit dieser Erzählung begonnen, ohne die geringste Gewissheit, dass ich sie fortsetzen würde. Ich wollte nur mein Bedürfnis, darüber zu schreiben, überprüfen. Ein Bedürfnis, das unweigerlich in mir aufkam, wenn ich an dem Buch schrieb, an dem ich seit zwei Jahren arbeite. Ich widerstand ihm, musste aber ständig daran denken. Ihm nachzugehen, machte mir Angst. Aber ich sagte mir auch, dass ich sterben könnten, ohne etwas aus diesem Ereignis gemacht zu haben. Wenn ich eine Schuld auf mich geladen hatte, dann diese.“

Form und Inhalt gehen eine unheimliche Allianz ein. Sich selbst zu exponieren, sich zum Material der Literatur umzugestalten, darin findet die Erzählung ihren archimedischen Punkt. Intensiv, verdichtet und geballt ereignet sich eine Feuertaufe vor dem Augen des lesenden Publikums. Nichts und niemand werden geschont. Alles wird aus dem Schatten ans Tageslicht gezerrt. Ungesagt bleibt nichts. Die Wunden verheilen nicht. Sie gingen zu tief. Sie bluten immer noch, und so gibt es Stellen in „Das Ereignis“, die einen noch im Traum verfolgen. Annie Ernaux bildet das Paradigma einer ganzen schreibenden Generation. Sie steht Pate für Bücher wie Daniela Dröschers „Lügen über meine Mutter“ oder Kim de l’Horizons „Blutbuch“ oder Jessica Linds „Mama“. Im Gegensatz zu Marie Ndiaye in „Die Rache ist mein“ oder Helga Schuberts „Vom Aufstehen“ oder Claudia Durastantis „Die Fremde“ misstraut das Erzähl-Ich in „Das Ereignis“ seinen Gefühlen. Es bremst sich. Es reflektiert und dissoziiert sich, um sich ganz und unmittelbar der Literatur auszuliefern, bei Annie Ernaux mit einer Wucht und Nacktheit, die ihres gleichen sucht.   

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