Bernhard Schlink: “Die Enkelin”

Bernhard Schlink: "Die Enkelin"

Eine literarische Antwort auf politische Hilflosigkeit. Ein kurzes Aufatmen im Gefüge.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Bernhard Schlink schreibt mit „Die Enkelin“ den Gegenroman zu Juli Zehs „Über Menschen“, knüpft an Edgar Selges Familiendrama „Hast du uns endlich gefunden“ an und vermittelt im Unmöglichen, was Christoph Hein in „Guldenberg“ nicht gelingt. Er verfällt weder in Bevormundung, Belehrung, noch in resignierter Selbstbeschimpfung wie Heinz Strunk „Es ist immer so schön mit dir“, noch imaginiert er die Versöhnung einer auf Grund gelaufenen Ehe wie Daniela Krien in „Der Brand“. Kurzum, Schlink gelingt mit „Die Enkelin“, was wenigen in der Gegenwartsliteratur gelingt. Er deeskaliert mit Sprachgefühl und kommuniziert weder mit Ehrfurcht noch mit Herablassung.

„Die Fahrt durch den Regen, die Tropfen, die an der Scheibe herabliefen, schnell oder langsam, in kürzerer oder in längerer Spur – es machte Kaspar traurig. Manche Tropfen blieben klein, andere verschmolzen miteinander und wurden groß, alle wurden früher oder später vom Wind fortgeweht. Natürlich wusste er, dass die Tropfen nicht die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit des Lebens offenbarten. Sie offenbarten auch nicht, dass Menschen ihre Wege nehmen und nicht zueinanderfinden, wenn der Wind des Schicksals sie nicht miteinander verschmilzt. Und doch quälte ihn alles dies.“

Das Buch handelt von einem Berliner Buchhändler, der von seiner Familie, seinem persönlichen Umfeld retten möchte, was zu retten ist, nachdem er gleich zu Anfang des Buches seine Frau tot im Badezimmer auffindet. Mittels Aufzeichnungen, Romanversuchen seiner Frau erfährt er Neues über ihre Vergangenheit, reist in die ehemalige DDR, nach Brandenburg, und knüpft neue Bekanntschaften, sucht neue Wege, zu verbinden, zu vereinen, was unvereinbar scheint. Zu tief graben sich die Mitmenschen in ihre ideologischen Welten selbst fabrizierter Identitätskonstruktionen. Der Protagonist, Kasper, ein Clown, möchte wenigstens der nächsten, neuen, noch frischen Generation Entscheidungsmöglichkeiten gewähren, Spielräume zur Entfaltung erringen, die verschüttet zu bleiben drohen in völkisch, nationaler, anti-intellektualistischer Gesinnungsproduktion.

„Ich war einmal im Winter hier [in der Neuen Wache bei der Käthe Kollwitz Plastik »Mutter mit totem Sohne«]. Ich war allein, es war still, es war kalt, es schneite. Der Schnee fiel durch das Deckenlicht, die Flocken tanzten und taumelten herab und legten sich der Mutter auf Kopf und Schultern, und der Anblick war so traurig, so schmerzlich – es waren eine Trauer und ein Schmerz, der allem galt, was nicht recht ist. Es ist nicht recht, dass Menschen im Krieg töten und sterben, dass sie gegeneinander gewalttätig werden und einander unterdrücken. Die Erde ist so groß und so reich, dass wir alle es gut auf ihr haben können.“

Der Roman ist nicht paternalistisch. Schlink betreibt keine Moralpredigt vom hohen Ross des Humanismus herunter. Er ist schlicht betroffen, hilflos, ratlos und kondensiert die Sprachlosigkeit in narrativer Geschlossenheit. Es gibt kein Entkommen. Die Probleme mehren und multiplizieren sich: Familien, die sich streiten; Autos, die brennen; Menschen, die getötet werden; Menschen, die töten; Radikale, Autonome, nach sich selbst Suchende, Drogenabhängige, Verratene, Verlorene – sie alle tummeln sich in Schlinks Roman und können nicht zueinander finden. Die Gräben, die sie um sich gezogen haben, sind zu tief. Auch Literatur vermag sie nicht zu überbrücken.

„Beim Schreiben geht es endgültig nicht mehr darum, es den anderen recht zu machen. Es geht allein um mich. Man kann nicht für andere schreiben, für die Leser oder die Kritiker oder den Verleger, für die Großmutter und die Mutter, sondern nur für sich selbst.“

Das schreibt seine verstorbene Gattin, die ihre Trauer vergeblich in Alkohol zu ertränken sucht. Das schreibt aber auch der Roman „Die Enkelin“, die von einem Protagonisten handelt, der als Hofnarr zwischen den Fronten zu vermitteln versucht, ohne wirklich helfen zu können. Am Ende bleibt ihm zu hoffen, zu warten, geduldig an sich zu halten, nicht weiter Öl ins Feuer gießen, weder verzeihen, was nicht verziehen werden kann, noch zu verurteilen oder gar zu beschimpfen, wer nicht die eigene Meinung teilt. Schlink will weder Frieden noch Krieg mit den neuen Identitäten schließen. Er möchte Kommunikation, Offenheit, Zartheit in die Welt bringen, und sein Roman schlägt deshalb bescheidene, freundliche, sanfte Töne an. Nur Gewalt, Gewalt darf einfach nicht sein und auch nicht entschuldigt werden.

Ein sehr zu empfehlender Roman, eine mitreißende Lektüre, eine Perle im Strom allseits aufblühender Identitätsliteraturen. Wer Schlinks „Die Enkelin“ mag, wird Helga Schuberts „Vom Aufstehen“ lieben, und wer sich noch tiefer in die Wunde des Völkischen bohren möchte, lese Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ und lerne das Fürchten, und mit Edgar Selge „Hast du uns endlich gefunden“ das Trauern und Bedauern.

5 Gedanken zu „Bernhard Schlink: “Die Enkelin”“

  1. Sehr spannend. Habe das Buch bereits in den Händen gehalten und dann doch nicht mitgenommen. Der Beginn erscheint wie bei ” Das Ungeheuer” von Terezia Mora.
    Das Miteinander im Gespräch bleiben erscheint mühsam. Gegen Verblendung anzukommen….nachvollziehen ohne zu folgen. Was ich mich oft Frage, warum der DDR nicht gelang was den Rechten sehr oft gelingt. Kinder die in solchen Verhältnissen gross werden bleiben indem Umfeld und dem Gedankengut oft treu verbunden

    1. Ja, das stimmt. Ich hätte das Buch auch nicht gelesen, aber ich habe meinen Blog ja angefangen, um eben mir einen Rahmen zu bauen, die Bücher aus den Bestseller-Listen zu lesen, die ich sonst nicht lesen würde 🙂 … es ist eine sehr emotional erschöpfende Lektüre, während derer ich mich oft innerlich entzog und Abstand nahm. Die Soziologie der DDR, oder eher die Sozialpsychologie dieses Arbeiter-und-Bauern-Staates ist in der Tat höchst eigenartig. Die Kinder wurden geradezu das diametrale Gegenteil – ich denke, es ist Trotz, die Lust am Verbotenen, am Tabubruch, da spricht aber mglw. der Freudleser in mir! Danke für den Kommentar!

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