Claudia Durastanti: “Die Fremde”

Claudia Durastanti: "Die Fremde"

Ein Liebesbrief ans Leben von einer Autorin, die mit dem Kopf durch die Wand will.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Claudia Durastanti, Jahrgang 1984, schreibt mit „Die Fremde“ ein Buch, das sich immer wieder zu lesen lohnen wird. Es platzt nur so vor Einfällen, Anekdoten, Wortspielereien. Durastanti vermischt alles und erlaubt sich alles. Man weiß nie trennscharf, was wirklich geschehen, was hinzuerfunden, was völlig aus der Luft gegriffen ist. Sie begreift die Sprache als Akt der Selbstfindung, das Leben als Abenteuer, die Herkunft als aufhebbares Schicksal und die Verbindlichkeit und das Verhängnis zwischen Liebenden und Gleichgesinnten. Sie schreibt über ihre Eltern, beide taub, über ihren Bruder, ihre Familie, Großeltern in Brooklyn, über ihr Leben in der Basilicata, über Süditalien, über London, was es heißt, arm zu sein, verrückte Eltern zu haben, eine drogenabhängige Kusine zu versorgen, einen anderen mit Haut und Haaren zu lieben.

„Nur wenn ich zu den alten Docks [in London] gehe und zwischen den Lagerhallen der einstigen Schifffahrtsunternehmen herumlaufe, erinnere ich mich, wie es passiert ist: Von hier ging die Ansteckung aus. Die Ansteckung ist eine Geschichte aus dem Osten. Hier legten die Schiffe mit Gewürzen und Tieren aus fernen Ländern an, und der Wunsch nach neuen Dingen wurde zu einer magischen Sucht.“

Durastanti spricht, schreibt, fabuliert, wie ihr der tolldreiste Schnabel gewachsen ist, nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht über Politik, über Liebe, über die Moderne, die Geschichte, was es heißt, Migrantin zu sein, Journalistin, Kritikerin, Cineastin, Tochter, Geliebte, und Studentin der Anthropologie, einfach zwischen allen Stühlen zu sitzen, genug Geld zu verdienen, und doch trotz sozialen Erfolges und Aufstiegs noch immer wie ein Mensch aus ärmlichen Verhältnissen zu essen. Mit ihr zusammen entdeckt man die Welt neu, sieht neue Details, freut sich über ihren Erfindungsreichtum, darüber, dass sie schreibt und ihr Schreiben teilt. „Die Fremde“ strotzt vor Lebensfreude, Übermut, Größenwahnsinn und Selbstreflektiertheit, die ihres Gleichen sucht und ein Gemisch erzeugt, das einen lustvoll schwindlig werden lässt.

„Ich spaziere durch London, ohne durch eiserne Tore zu gehen, Vulkane oder Einöden voller Dornbüsche zu überwinden, ich gehe über den regenschleimigen Asphalt mit einer Freude und Kühnheit, aus der im Lauf der Zeit Müdigkeit wird, doch ich gehe weiter voran, und wenn ich in der Ferne den Turm erblicke, widerstehe ich ihm nicht mehr. Wie die Risse aus staubigem, violettem Licht bei den selten sichtbaren Sonnenuntergängen über den Häusern, die mich überwältigen, beherrscht mich seine Kraft, sein Licht.“

Alle, die das Intime, Befremdliche, das Changieren der Literatur zwischen Vertrauen, Verstecken, Maskieren und Preisgeben mögen, die autobiographischen Texten den Mangel an rotem Faden verzeihen, die sich gerne einem Treiben zwischen Worten und Metaphern und Allegorien überantworten, sei das Buch wärmstens empfohlen. Es wird keine Story erzählt. Das Buch ist Dichtung, Leben, das Gespräch mit einem Menschen, den man just eben getroffen hat und nun beginnt kennenzulernen. Claudia Durastanti gleicht in diesem Hinblick Henry Miller und Anaïs Nin, aber vor allem André Breton in seinem surrealistischen Text und Liebesroman „Nadja“.

Lediglich das erste Viertel des Buches ist etwas beschwerlich zu lesen – der Rest jedoch bietet wahre Lebensfreude und Literaturlust. Das Buch hält absolut, was das toll gewählte Cover verspricht: Eine Autorin, die mit dem Kopf durch die Wand will.

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