Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“

Das Prinzip des Antiwitzes zum Roman erhoben.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Der Büchner-Preisträger aus dem Jahr 2021, Clemens J. Setz, hat in seinem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ der Welt der Stalker und Smartphone-Fanatiker nachgespürt. Das Buch umfasst 1021 Seiten in der Print-Ausgabe und besteht aus zwei Teilen, der erste aus 49 Kapiteln, der zweite aus 53. Zusammen ergibt dies also 102 Kapitel, was, sieht man von der Danksagung ab, auf exakt zehn Seiten für jedes Kapitel schließen lässt, aber weit gefehlt!! Logik oder Symmetrie sind nicht Setz‘ Ding. Die Kapitel sind nämlich unterschiedlich lang und ergeben nur mit sehr viel gutem Willen so etwas wie einen Plot: 

„Natalie war stolz. Ich kann das, dachte sie. Ich habe diese Wirkung. Ich kann genau die richtige Frequenz finden. Vielleicht wird dir das noch mal das Leben retten, sagte die Maus auf ihrer Schulter, und Natalie berührte den Typen am Handgelenk. Dann tranken sie aus Flaschen, die zufällig in der Nähe standen, und Natalie kam sich auf einmal sehr repräsentativ vor, und sie wandte sich, um nicht wütend zu werden, innerlich von sich selbst ab und ließ sich stehen. Ein PEZ-Spender geriet über einige Umwege in ihre Hand, und sie verlor sich in der Betrachtung des lieben, kleinen Tiergesichts. Etwa um dieselbe Zeit fiel im Garten eine schwere Regentonne um.“

Mit der Inhaltsangabe bei diesem Buch zu starten, erweckt falsche Vorstellungen. Narrativ passiert in diesem Roman so gut wie nichts. Eine geheilte Epileptikerin und Behindertenbetreuerin namens Natalie beginnt in einer Anstalt zu arbeiten. Sie wird von der Pflegeleitung als Bezugsperson einem Rollstuhlfahrer namens Alexander Dorm zugeteilt, der regelmäßig von einem Christopher Hollberg Besuch bekommt. Nach und nach erfährt Natalie, dass die beiden eine finstere Vorgeschichte teilen und Dorm etwas mit dem Selbstmord von Hollbergs Frau zu tun hat. Die Lage eskaliert. Es fließt Blut. Es fliegen Scherben. Zwischendurch vertreibt sich Natalie die Zeit mit Streunen, d.h. sie läuft nachts durch die Gegend und bietet kostenlosen Geschlechtsverkehr an. Sie verliebt sich in den Stricher Mario, lässt ihre Beziehung zu ihrem Ex-Freund Markus Revue passieren und wird Opfer von mehreren Stalkern, u.a. einem Frank, der einen Jugendkeller im Souterrain führt, dafür aber die Erlaubnis eines Herrn Eulemann benötigt, die dieser jedoch stets entziehen kann. Setz gibt eine eigene Zusammenfassung:

„Irgendwie muss ich hier rauskommen, dachte Natalie. Aber es stellten sich nur falsche Gedanken ein, unbrauchbares Zeug, Schwemmgut aus anderen Kapiteln ihres Lebens. John Updike, dachte sie. Seine riesige Nase. Das Taufkettchen von Markus. Folgen Sie diesem Ballon. Das schreckliche Metallding in Marios Mund. Ich beweg mich über den Platz. Das entzückende Taufkettchen. Frank. Das Gespräch über Förderung, Eulemann, Souterrain. Mi casa. Vanillejoghurt. Chat. Das Pflaster in seinem Fell. Rauchender Zigarettenschornstein am Grab. Der Traum vom Mückenschwarm. Koller. Lampion. Sie suchte in diesem Dickicht nach einem Satz, der vielleicht einen Schalter umlegen konnte. Souterrain, Eulemann, Förderungen. Gefangenendilemma-Programme. Der leuchtende Schornstein. Eulemann. Gott. Er ist Gott.“

Setz hält bereits einen Namen für sein Schreibstil bereit: Nonseq, denn Kohärenz, Stringenz und Fokussierung ist langweilig und irreführend, Nonsens jedoch zu alltäglich und leicht und ubiquitär. Nonseq hält sich in der Mitte – kleine, in sich schlüssige Teilsequenzen, die zusammen Nonsens ergeben, aber nicht für sich. Alles zusammengelesen bleibt sinnlos, denn das Ganze ist nicht mehr, sondern weniger als seine Teile. Die Teile besitzen Bezug und Substanz, nur eben nicht als Abfolge, als Konstrukt. Wie groß oder klein die Teile aber sind, was das Ganze ohne die Teile, die Teile ohne das Ganze sind, hängt nun vom jeweiligen Mix, der jeweils bezogenen Beobachterposition ab, und exakt hier liegt der Hund begraben, wieso sich „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ als literarischer Zufallsgenerator liest. Er hält nicht, was er verspricht. Er hält wichtige Informationen zurück, gibt sie nur nach und nach preis, um nicht noch den letzten Rest an Spannung dem Text zu nehmen, aber nie völlig. Der Roman rechnet nicht mit einem aufmerksamen Publikum. Er rechnet gar nicht, denn Rechenregel sind ihm zu wider. Er schiebt nur das unvermeidliche Ende weiter auf:

„Und am Ende war das beste Programm jenes, das immer nur das tat, was das andere Programm ihm in der Vorrunde angetan hatte. Verpfeift mich – verpfeife ich ihn jetzt. Hat geschwiegen – mache ich jetzt auch. Das war alles. Das war die beste Strategie auf Erden. Was für ein Elend. Dumme Programm-Ameisen, wir sollten aussterben.“

Clemens J. Setz schreibt mit „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ einen erbarmungslosen Stalker-Roman. Auf Schritt und Tritt begleitet er eine ahnungslosen Frau mit literarischer Verfolgerkamera und gibt jedes Detail ihres Intim- und Gefühllebens preis, ohne Sympathie oder Freundlichkeit aufzubringen, ja überhaupt einen Bezug zu ihr zu haben. Seine Erzählposition lautet konsequenter Voyeurismus. Das Beobachten selbst, egal wie langweilig, ist sich selbst als Akt der Macht und Inanspruchnahme von Teilrealität genug. Jean-Paul Sartre beschreibt dies in „Der Blick“ in seinem Buch „Das Sein und das Nichts“ programmatisch. Hauptsache etwas, was nicht gesehen werden soll, wird gesehen, und wenn möglich heimlich durch ein Schlüsselloch, dann ist es nämlich, so die Logik des Voyeurs, gerade weil es verboten ist, auch mit Garantie interessant.

„Natalie flüchtete sich zu ihren Zehen. Die waren ihr immer treu, kleine, spiegelbildlich und ihrer Größe nach angeordnete Orgelpfeifen-Larven. Sie strich über sie, nach Harfenspielerart, und stellte sich ein aufsteigendes Glissando vor. Zehen. Der geborgenste Teil am eigenen Körper. Wie eine Außenstation, die verlässlich Nachrichten an das Hauptquartier weiterleitete. Wenn man im Bett oder in der Badewanne lag, waren sie da – und lauschten.“

Wer jedoch nicht alles interessant findet, was durch Verletzung einer Privatsphäre bekannt wird, den wird „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wirklich überzeugen. Der Voyeur bleibt außen vor. Er dringt nicht zu Natalie durch. Natalie bleibt ihm fremd wie die ganze Welt. Sie zieht an ihm vorüber wie ein Film, und so liest sich Setz‘ Roman wie sich die Nacherzählung eines Films anhört: Im besten Fall ist sie kurz und bündig und macht neugierig. Im schlimmsten Fall ist sie lang und langweilig und völlig überflüssig.

2 Gedanken zu „Clemens J. Setz: „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre““

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