Dörte Hansen: „Zur See“

Freundliche, besonnene Literatur voller Pathos, Lebens- und Erzählfreude.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Die geheime Kunst des Erzählens lautet die Geschichte frei von Erklärungen zu halten. Die Ereignisse reihen sich aneinander, ergeben ein Bild, schließen sich zu einer Atmosphäre, einem Eindruck zusammen und verstecken sich nicht hinter Meinung, Urteil oder Wertungen. Dörte Hansen schreibt in ihrem Roman „Zur See“, wie alten Seebären wohl der Schnabel gewachsen ist. Sie schreibt, ohne ein Blatt vor dem Mund zu nehmen. Sie schreibt mit Seewind im Rücken über die Höhen und Tiefen des Lebens auf einer Nordseeinsel:

„Die Fähre zieht durch kabbeliges Wasser, und an Deck riecht es nach Öl. An diesen dunklen Wintertagen sind der Himmel und die See aus einem Guss, das Grau des einen ist vom Grau der anderen nicht mehr zu unterscheiden. Die Insel ist noch nicht zu sehen, und fast rechnet sie damit, dass sie bereits verschwunden ist. Dass diese Fahrt nie enden wird und dieses Schiff nun ewig auf den Wellen bleiben muss, die Insel aufgelöst im großen Grau, die Vogelinsel weggespült, die ganze Welt nur noch ein Himmel und ein Meer. Sie stellt sich vor, auf einem Segelschiff zu stehen, eine Hand am Mast, nach Monaten auf See, kein Land in Sicht. Man kann nie sicher sein.“

Im Zentrum des Geschehens steht die Familie Sanders. Hanne Sanders und Jens Sanders haben drei Kinder: Ryckmer, Eske und Henrik. Die Familie ist zerfahren. Jens Sanders entfremdete sich wegen seiner monatelangen Seefahrten von seiner Familie. Ryckmer, der ebenfalls als Kapitän arbeitete, brach während eines finsteren Sturms zusammen und begann zu trinken. Eske arbeitet als Krankenpflegerin auf der Insel, nachdem sie ihr Studium auf dem Festland abbrach, weil sie die Insel doch zu sehr vermisste, und Henrik verdingt sich als Künstler und Erbauer von Figuren aus Treibgut, das er jeden Morgen am Strand sammeln geht. Zwischen den Ereignissen rundum die Familie Sanders herum wird noch das Leben des Inselpastors und das von anderen skizziert. Protagonistin aber von Hansens Roman ist die Insel selbst, die sich gegen das anbrandende, raue Meer zu wehren versucht, aber stets vom Verschlucken und Verschwinden bedroht bleibt:

„Ein paar Jahrzehnte noch, dann wird all das verschwunden sein. Die Meeresspiegel steigen, und die Stürme werden härter. Sie braucht die Fluttabellen ihres Bruders nicht, um das zu sehen. Kein Wellenbrecher wird die Nordseeinseln retten und kein Klimadeich, weil sie nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Nichts Vertikales hat Bestand in dieser Landschaft, nicht die Kirchen, nicht die Sünden aus Beton, auch nicht die Reetdachhäuser mit den spitzen Giebeln, nicht einmal die Bäume. Es gibt hier nichts Beständiges. Das Fließen, Strömen und Verlanden, Stürmen, Auseinanderreißen hört nicht auf. Land gewonnen, Land zerronnen. Alles will hier Horizont sein.“

Dörte Hansen schreibt in einem flüssigen, schnellen Stil über das Leben auf der Insel. Rhythmisch werden Erinnerungen, Rückblicke und Vorblicke in die jeweilige Gegenwart transponiert und abwechselnd aus der Sicht der einzelnen Familienmitglieder berichtet. Sensationslust bedient die Autorin nicht. Sie erzählt bodenständig schlicht. Sie bleibt nahe an der Beobachtung, lässt sich nicht zu Wertungen und plakativen Vereinfachungen herab. Ihr steht das Gewusel des Lebens selbst vor Augen, die Fragen, die Möglichkeiten, das Werden und Vergehen im Gesamtzusammenhang von Natur und Mensch:

„Die Sonne steht schon hoch, fällt durch das salzverschlierte Fenster, wärmt das Holz, und aus den Dielenbrettern perlt das Harz. Die frischen Lärchenbohlen bluten noch. Es dauert eine Weile, bis er weiß, woran ihn der Geruch erinnert: Sommerwald. Ein weicher Boden unter seinen Füßen, Laub und Kiefernnadeln und ein Rauschen in den Wipfeln windgekrümmter Bäume, die im Dünensand mehr schlecht als recht die Stellung hielten. Was man als Inseljunge eben unter »Wald« verstand.“

Wem der Sinn nach Erzähllust, verdichtender Atmosphäre, bollernden Worten und verschlungenen Lebensschicksalen steht, wem es nach weniger Erklärungen und Anklagen, mehr nach Mystik und Staunen verlangt, wer abschalten und sich auf die Reise machen möchte, kann mit Dörte Hansens Roman „Zur See“ einfach nichts falsch machen. Sie erzählt, wie die Alten erzählen, nämlich so, dass die Zeit stehenzubleiben beginnt, von Wort zu Wort langsamer zu vergehen scheint, bis alles nur noch Insel und See, Himmel und Küste, Seetang und Muschelknacken geworden ist, ein großes, unauflösbares Rätsel über Leben und Tod und alles dazwischen.

Wer Agustina Bessa-Luís‘ „Die Sibylle“, wer Fernando Namora „Im Verborgenen“, oder Alfred Andersch in „Die Rote“ und Helga Schubert „Vom Aufstehen“ mag, wird auch Hansen sehr zu schätzen wissen. Eine ruhige, freundliche, besonnene Literatur voller Pathos, Lebens- und Erzählfreude.

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