Eckhart Nickel: „Spitzweg“

Eckhart Nickel: „Spitzweg“

Spätsommerliches Literaturglück, das zum Wiederlesen einlädt.

Ausführlicher und vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Benjamin von Stuckrad-Barre ohne Süffisanz? Christian Kracht ohne Zynismus? Maxim Biller ohne erhobenen Zeigefinger? Oder Florian Illies ohne schlüpfrige Details? Kaum denkbar. Eckhart Nickel geht mit „Spitzweg“ einen eigenen Weg in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, und er geht ihn gemächlich, konsequent und ohne alle Brisanz. Inhaltlich lässt sich „Spitzweg“ als Coming-Of-Age-Roman einordnen, stünde der Inhalt im Vordergrund. Tatsächlich aber steht das Erzählen im Vordergrund, ein sehr langsames, freundliches, genaues und detailliertes Erzählen über die Suche nach Sinn und Sinnlichkeit in einer größer und unübersichtlicher werdenden Welt:

„Die Kunst besteht vielmehr im absoluten Gegenteil dieser aktionistischen Schaustellerei: Es geht allein darum, das Nichtstun aushalten und bewegungslos neben sich zu stehen, am Ende selbst zur reinen Beobachtung zu werden, der nichts entgeht, was um sie herum geschieht. Noch das kleinste Geräusch dringt an meine Ohren, ein Plätschern am Ufer oder das Säuseln des Winds in den Gräsern und Blättern. Das leichteste Flackern des Lichts, das sich im Wasser des Sees spiegelt, erreicht als Reiz meine Augen, aber ich nehme es lediglich wahr und lasse es mir nicht anmerken.“

Hier spricht ein Angler über die Kunst des Angelns, aber selbiges gestaltet Nickels Text und setzt einen Stil um, der im Detail die Fröhlichkeit und Buntheit, die Lebendigkeit des Daseins erblickt. Vordergründig geht es um einen namenlos bleibenden Ich-Erzähler, um Kirsten und Carl, die alle einen Abiturkurs Kunst besuchen. Es kommt gleich zu Anfang des Romanes zum Eklat, und eine Art Abiturientenstreich folgt. Der Plot wabert jedoch lediglich zufällig mit. Er bietet nur das Gerüst, um das sich allerhand Assoziationen, spätsommerliche Eindrücke, Sehnsüchte und Träume spinnen. Der Ich-Erzähler verliebt sich. Carl sucht Mittel und Wege, noch im Geringsten ein Abenteuer zu erblicken, und Kirsten sucht sich selbst, ohne zu wissen, worin diese Suche bestehen könnte. An entscheidender Stelle wird T.C. Boyle zitiert:

„Ist das ein Trost? Also zu wissen, dass wir nur die nächste Generation einer Spezies sind? Und gar nicht so sehr Individuen, die bedeutsame Spuren hinterlassen? Oder ist es nicht vielmehr ein Triumph, dass wir uns große Gedanken darüber machen können, was unsere Existenz in diesem riesigen, dunklen, rätselhaften und Furcht einflößenden Universum bedeutet.“

Diesen allumfassenden Fragen wird mit einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit begegnet. Weder fallen große Wörter. Noch geschehen schlimme Dinge. Noch geht es um Drogen, Sex oder Gewalt. Es geht lediglich um Kunst, um Kopie und Original, um den Mut zum Ausdruck und Ausbruch, aber auch um die Mühe und Mühen, in einer übergroßen Welt Anschluss zu finden. Nickels Ton kennt keine Überheblichkeit. Sein Roman gibt keine Antworten. Er beschreibt. Er vollzieht nach und erzeugt ein intensives, buntes, geheimnisvolles Bild verschiedener möglicher Lebensentwürfe, die sich ihr Geheimnis bewahren, die Hoffnung, den Wunsch, dass nichts unerfüllt bleibt. Nickels Stil zeichnet sich durch integrative Synästhesie aus. Die ganze Welt spricht. Alle Dinge nehmen teil. Nichts und niemand bleibt außen vor. Seien es die Lauten und Schnellen, seien es die Bücher und Bilder, die Stillen und Leisen, oder gar die Schönheit der Kastanien:

„a) Haptik. Die Kastanie muss weich und glatt in der Hand liegen, als berühre man ein ausgiebig poliertes Stück Holz oder einen frisch geputzten Glattlederschuh. b) Proportion. Der leicht angeraute sandfarbene Fleck an der Stirnseite darf nicht mehr als ein Viertel der gesamten Oberfläche der Kastanie bedecken. c) Farbe. Erlaubt ist, was gefällt.“

Er schreibt „in der Hand liegen“, das wechselseitig vonstattengeht und fordert nicht lediglich Glätte. Auch beschreibt er die „Stirnseite“ und nicht eine, nur von außen deklarierte Vorderseite. Der Stil geht ums Ganze, um den vollen Eindruck, das ganze Bild, samt Rahmen, Beobachter, samt Farben und Licht, samt Raum und Konstellation im Erfahrungsganzen. In Eckhart Nickels „Spitzweg“ lebt Literatur, die literarische Sprache, kurze, bisweilen lange Sätze, Reflexionen, Ausschweifungen, knappe Andeutungen, melodisch, rhythmisch so komponiert, dass keine Zeile zu viel, kein Satz zu wenig ist. Was sprachlich bei Benedict Wells fehlt, löst Nickel ein. Er schreibt mit modernistisch geläuterter Romantik im Rücken. Hermann Hesses „Demian“ ohne Mystik, Thomas Manns „Tonio Kröger“ ohne Snobismus oder Franz Werfels „Verdi“ ohne Sentimentalität. Kurz: Einfach ein Buch, das zum Wiederlesen einlädt.

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