Esther Kinsky: „Rombo“

Rombo

Dem Schrecken eine Stimme geben.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Esther Kinskys neuester Roman “Rombo“, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, beschäftigt sich mit den Erinnerungen an ein Erdbeben in Norditalien, genauer in Friaul, und dessen Folgen in den Gemütern der Menschen und den Formen der Landschaft:

Was ist ein Erdbeben? Ein Erdbeben ist doch, als bewegte sich etwas Gewaltiges im Traum. Oder als wäre einem Riesen nicht wohl im Schlaf. Und das Erwachen ist eine neue Ordnung der Dinge in der Welt. Da wird der Mensch mit seinem Leben so klein wie der kleinste Stein im Fluss.

Das Erdbeben kündigt sich mit einem Grollen an, ein unterirdisches Ächzen und Krachen, auf dass hin nach kurzer Zeit die Landmassen in Bewegung versetzen und alles unter- und überirdische in Mitleidenschaft zieht. Tiere, Menschen, Gebäude, Straßen, Flüsse, Berge, Schluchten und Täler werden verschoben, zerstört, verändert, versetzt. Der absolute Kontrollverlust hinterlässt tiefe Spuren, die Kinsky polyphon zur Sprache kommen lässt. Eine Reihe von Dorfbewohner spricht über die Ereignisse vor, während und nach den beiden Erdbeben im Mai und September.

Die Luft ist voller Geräusche, vom fernen Donnern aus den Bergwänden bis zum Ächzen von Bäumen in den Gärten, dem Bersten von Holz in den Dächern, dem Splittern von Glas und dem grollenden trockenen Poltern von Stein. Menschenstimmen in grellster Aufregung, um Obdach gebracht, nach Nächsten suchend, aus Verschüttungen schreiend, Trümmer packend, wälzend, rufend, heulend, ein Jammern in der Dunkelheit.

Sowohl in der Narration, im Rückblick von Figuren, als auch über ein apersonales, quasi-wissenschaftliches Beschreiben, wie auch durch Einschübe, Bemerkungen, Reflexionen der Erzählinstanz entsteht ein vielschichtiges, geschichtsgeladenes Bild dieser Zeit. Durch den Episodencharakter, die aufeinander Bezug nehmen, ohne sich zu kennen, kristallisiert sich ein geheimes Zentrum des Buches, das Lesen selbst. Mehr und mehr erhalten die Ereignisse und die Dorfbewohner Leben, bis der Eindruck entsteht, sie stünden leibhaftig vor einem. Kinsky authentifiziert durch Verfremdung:

Direkt meinem Stand gegenüber, auf der anderen Seite vom Fluss, erhebt sich der Berg, unter dem das erste Erdbeben lag, angeblich genau darunter, oder sogar darin. Alles hier war völlig zerstört. Vieles ist wieder aufgebaut, aber die Landschaft vergisst nicht, was ihr zugestoßen ist, überall sind noch Ruinen und Trümmer von Häusern, aus manchen wachsen schon Bäume und Sträucher, und Efeu ist darübergekrochen. Manchmal würde ich dem Berg gerne etwas sagen, wenn ich so allein da stehe und niemand mich hört. Schweig du nur still, zum Beispiel. Nie wieder so was wie damals. Aber es ist zu spät. Die Welt ringsum ist anders geworden.

Esther Kinskys Roman “Rombo” liest sich weder nebenher noch schnell. Zu komplex mischt sie die Beschreibungsformen, zu diaphan durchschwebt der Zusammenhang die einzelnen Episoden. Das Unheimliche des Erdbebens entsteht durch die Verrückung und Lücken im Erzählen und Erinnern der Menschen. Sie versuchen, dem Kontrollverlust zu begegnen, können es aber nur durch Mythen und Sagen und Legenden. “Rombo” nimmt diese auf und wird so selbst zu einer solchen Praxis.

Wie Claude Simon in “Die Schlacht bei Pharsalos” erzählt sie, indem sie beschreibt. Wie Thukydides in “Der Peleponnesische Krieg” beschreibt sie, indem sie erklärend spekuliert. Wie Guido Morselli in “Dissipatio humani generis oder Die Einsamkeit” lässt sie das Schweigen des Kontrollverlusts zur Sprache kommen. Intensiv wie in Damon Galguts „Das Versprechen lässt sie das Wortlose geschehen. Die Dinge sprengen, Hoffnungen zerstäuben, und die Sprache versucht wieder dort einen Zusammenhang zu stiften, wo vorher nur Zerstörungswut zu sehen und zu erkennen gewesen ist.

Dass Esther Kinsky diesen Zusammenhang nicht durch Theodizee und Weltanschauung forciert, sondern sich selbst aus den Details ergeben lässt, zeichnet “Rombo” aus. Er hinterlässt Spuren, wo andere literarische Geschichtsschreibungsversuche nur Anekdoten zuwege bringen.

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