Fatma Aydemir: „Dschinns“

Fatma Aydemir: „Dschinns“

Vom Licht am Ende des langen Tunnels der Selbst- und Fremdfindung.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Gespenster einer Vergangenheit spuken in den Köpfen einer türkischen Einwandererfamilie herum, die Protagonisten in Fatma Aydemirs polyphonen, neuen Roman Dschinn. Alles dreht und windet sich um das väterliche Schweigen, seine Frau, seine vier Kinder. Die Last der Verantwortung, die Angst vor dem Versagen, ein Moloch des Kommunikationsabbruch durchfiebert Hüseyin. Plötzlich, kurz vor seinem Triumph, stirbt er an einem Herzinfarkt in seiner neuerworbenen Eigentumswohnung in Istanbul. Er greift sich an die Brust. Doch jede Rettung kommt zu spät.

Warum wolltest du gerade nach Istanbul kommen? Was weißt du schon von diesem Ort? Ist es wirklich dieser Ort, nach dem du dich sehntest, oder bloß eine Erinnerung? Eine Erinnerung an das Entkommen aus der Heimat, an den Zwischenstopp vor der Fabrik, an den Ort, an dem es nicht mehr um das Vergessen ging und noch nicht um das Arbeiten. Den Ort, an dem du zum ersten Mal atmen konntest. Du willst atmen, Hüseyin, du willst nicht sterben, nicht jetzt […]

Sein ganzes Leben lief auf diesen Augenblick zu. Mit Geld, mit Eigentum, als einfacher Bauer, als einfacher Dorfbewohner nach Deutschland ausgewandert und dann zurückzukehren in die Türkei und zwar als gemachter Mann. Kurz bevor aber seine Familie zu ihm nach Istanbul stößt, verstirbt er, und was bleibt, ist Schweigen, die Erinnerungen an ihn, die Trümmer einer Familie, der die Zukunft abhandengekommen ist. Was aber bleibt, sind die Erinnerungen, und so wird Kapitel um Kapitel die Innenansicht der Kinder und der Ehefrau beschrieben, ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Ängste und Reue, ihre Dämonen, kurz: die Dschinns der Familiengeschichte:

Dschinns? Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie?

Der Schmerz sitzt tief, und er sitzt noch viel, viel tiefer als die einzelnen Familienmitglieder ahnen, selbst Emine, die Mutter, spürt weitere, schmerzhaftere Erinnerungen zwischen sich und ihrem Ehemann, der alles mit ins Grab nimmt, das Ungewisse wie das Gewisse, das Verbrechen, das Hüseyin und sie auseinanderhielt, von Anfang an. Aydemir lässt alle Familienmitglieder sinnieren, beschreibt sie von innen heraus, in Zeitsprüngen, in Assoziationen, zwischengeschoben, im Schwerelosen, zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart hängend. Ähnlich wie Damon Galgut in Das Versprechen, oder Claude Simon in Das Gras oder Virginia Woolf in Die Wellen beschwört Aydemir die Kraft und die Hoffnung, die im Ausdruck, im Aussprechen, in der Erinnerung und im Gedächtnis liegt:

 Ja, Sevda befand sich in einer ausweglosen Lage, doch sie würde diese Lage umkehren, eine bewusste Entscheidung aus ihr machen. Sie würde aus ihrer Ohnmacht aufwachen und die Dinge selbst in die Hand nehmen. Sie würde sich Ziele setzen, sie würde Platz schaffen für Hoffnungen, auch wenn sie winzig klein waren, aber sie würde sie ernst nehmen von nun an und sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen.

Stilistisch in hohem Tempo, dicht, klar, präzise arbeitet Aydemir die Konflikte zwischen Ansprüchen und Wirklichkeiten, zwischen Wünschen und Hoffnungen, Traditionen und Brauchtümern heraus. Ganz anders als Orhan Pamuk in Die Nächte der Pest werden die Figuren in Dschinns so lebendig, wie die Ich-Erzählerin in Emine Sevgi Özdamars Ein von Schatten begrenzter Raum. Keine Zeile zu viel. Kein Satz zu lang, keiner zu kurz. Jede Zeile glüht vor Ausdruckslust und weist den Weg zum Licht am Ende des langen Tunnels der Selbst- und Fremdfindung.

6 Gedanken zu „Fatma Aydemir: „Dschinns““

    1. Das Buch liest sich außerordentlich flüssig, schnell und lohnt sich. Einen Platz irgendwo im Buchstapel hat es verdient. Das Schöne an Büchern wie diese, sie lesen sich auch in Jahren noch voller Intensität. Es ist sehr gut komponiert. Es hat viel von Melchiors Wucht, deren Paradeis du mochtest, denke ich.

  1. Ich liebe deine Rezensionen , schon allein wegen der Bezüge die du Hersteller und die mir immer neue Fenster öffnen. Dschinns hatte ich in der Hand, hatte aber Angst , dass dasselbe passiert wie so oft. Die Bücher die man ganz oben auf den Bücherstapeln bei Hugendubel und Thalia findet, berühren mich oft nicht oder nur sehr kurz.

    1. Vielen Dank für deine netten Worte. Ich versuche ja stets Zusammenhänge auszudrücken, die sich bei mir während des Lesens ergeben. Es ist stets eine Überraschung, woran ich dann denke – oft muss ich mich dann sehr zurückhalten, habe stapelweise Bücher auf meinem Tisch und will sie alle zur Sprache kommen lassen. Die Auswahl fällt schwer, der Kopf qualmt. Am Ende kommt dann irgendetwas heraus, dass mich selbst überrascht. Zu “Dschinns” – es besitzt eine sehr eigentümliche Kraft, einen gewissen Mut und fröhliche Ausdrucksenergie. Es beschreibt die allgemeine Verlorenheit sehr gut, hat aber keinen anderen Ausweg aus dem Labyrinth als Aggression zu bieten. In diesem Sinne ist es die bestmögliche Unterhaltungsliteratur, die ich mir vorstellen kann, aber nicht mehr.

      1. Hymnische Sprache, das war das was ich am Buch sofort angesprochen hatte, wie auch bei Hymne:;, als ich dann aber weiter blätterte entschied ich mich doch dagegen es mitzunehmen

Kommentar verfassen