Fernanda Melchor: „Paradais“

Fernanda Melchor: „Paradais“

Von jungen Wilden und ihrer Sprachlosigkeit … intensiver Blick in den Abgrund

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Bücher, die im Grunde aus Rhythmus, Sprachfreude und einem bandwurmartigen Formexperiment bestehen, lassen sich nur mit Mühe herkömmlichen Kategorien zuordnen. „Paradais“ von Fernanda Melchor gehört zu diesen Texten und lässt sich, beinahe, in einem Atemzug mit einer Lesezeit von etwa 90 Minuten durchlesen, in etwa einer Spielfilmlänge. Ist es also ein Film als Buch? Ein mexikanischer Coming-of-Age-Roman, ein Splatter-Machwerk, Thriller, eine Quentin Tarantino-Variante, bestehend aus Schimpfwörtern, Obszönitäten, ordinären Tiraden? Oder einfach der Versuch, den Dschungel spätpubertärer Jünglingsallüren mal ungeschönt und unverharmlost, nicht wie in Herman Hesses „Demian“, in Worte zu gießen, der Gefahr der rasenden Ungeduld nackt ins furchterregende Auge zu sehen, um eine Rettung zu erahnen, wie der Ich-Erzähler in Edgar Allan Poes „Hinab in den Malstrom“?

„An einen dicken Ast des Amatebaums gelehnt, schloss er [Polo] die Augen, atmete den matten Duft der Lilien ein, und ohne es zu wollen, doch auch ohne es verhindern zu können, machte er denselben Fehler wie immer, wenn es ihm gut ging, genau denselben: Er wünschte sich, dieser Moment des einsamen Friedens ginge niemals vorüber. Doch, klar, gleich darauf tauchte unweigerlich der verfluchte Dicke [Franco Andrade] am Steg auf, vom Herabsteigen der Holzstufen schnaufend wie ein Nashorn, mit seinem dämlichen Grinsen aus der Zahnpastawerbung und dem gleichen Gelaber wie immer, im Ernst, demselben beschissenen Gefasel, wie er die Señora [Marián Maroños] von vorne und von hinten und von wer weiß wo […]“

Es ist klar, wie es in dieser Welt von Polo, ein Jugendlicher, der in Mexiko, in Progreso lebt und von Reichtum, Anerkennung und Bedeutung träumt, weitergeht. Er trinkt viel zu viel trinkt und nimmt sich auch seinen kriminellen Cousin Milton zum Vorbild. Der Roman von Fernanda Melchor fängt die Geistesverwirrung und Obsession eines Heranwachsenden ein, der vor lauter Intensität nicht klar zu denken vermag, Spielball seiner Selbstinszenierung bleibt, von den Launen seines selbst herbei gerufenen Schicksals abhängig bleibt.

„Aber keine Sekunde, keine einzige Sekunde, das würde er [Polo] ihnen sagen, niemals, nie war ihm das Bild durch den Kopf gegangen, wie er selbst den Maroños etwas antat. Er hatte überhaupt nichts gegen sie, dachte gar nicht daran, irgendjemanden umzubringen, irgendjemanden zu vergewaltigen; diese ganzen Pläne hatte der andere gemacht, der verfluchte Dicke in seiner Sch*ßbesessenheit.“

Was „Paradais“ außergewöhnlich deutlich werden lässt, wie Geschehnisse möglich werden, die in Roberto Bolaños Roman „2666“ eindrücklich und schmerzhaft beschrieben worden sind. Melchors „Paradais“ gibt eine psychologische Miniatur solcher Ermordungen, ohne Erklärungen, ohne Rechtfertigungen, ohne auch nur das kleinste Mitleid mit den Tätern. Die Sprache, die sie verwendet, gibt beredtes Zeugnis. Die Sprache ist nunmehr auf ein Schnaufen zurückgebildet, ein Stöhnen nach Körper, Luxus, Drogen und Exzess.

Fernanda Melchor, die offenkundig viel Inspiration aus Thomas Bernhards Texten gezogen hat, die gleichermaßen in einem atemlosen Stil das Wirrwarr Polos nachzeichnet, wie Thomas Bernhard sein eigenes Leben, seine eigenen Bemühungen den Gedankengefangenschaften zu entkommen, beispielsweise in der autobiographischen Trilogie „Die Ursache – Der Keller – Der Atem“, klagt im selben Stil, nur noch obszöner, den blinden Fleck des Beschriebenen ein, nämlich die Humanität, sich den Vorgängen zu stellen. Mit „Paradais“, einem ganz eigenen „Paradise Lost“ Miltonscher Provenienz, ist es ihr zumindest gelungen, es unheimlich und furchterregend zu beschreiben. Es lässt einen ratlos und zugleich empört zurück.

Ein Gedanke zu „Fernanda Melchor: „Paradais““

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