Friederike Mayröcker: “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”

Friederike Mayröcker: "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete"

Zeitloses dem Tode abgerungen. Von erster bis zur letzten Zeile Sprachfreude.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Friederike Mayröcker legt mit „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ein erstaunliches Zeugnis ab. In einer Art poetisches Tagebuch lässt sie ihr Leben Revue passieren, springt von der Gegenwart in die früheste Vergangenheit und zurück, reflektiert ihre Freude am Dichten, lässt ihre Kindheit, ihre Jugend, das Erwachsenleben zu Wort kommen und streut zärtliche Sehnsüchte und Wünsche ein.

„er habe heute Geburtstag er sei ein Schäfchen
und habe Geburtstag, deine Hand liebkost
meinen Fusz, nämlich wünsche ich mir dasz du
in deine Hand nimmst, weil die
Zehen meines Fuszes schmerzen, ich meine
du nimmst meinen Fusz in deine Hand und
läszt ihn da ruhen“

Das Prosagedicht, die Autorin nennt es „Proem“, handelt vom Sterben. Keine Zeile, die nicht davon Zeugnis ablegt, der Schmerz, die Zeit, die verfliegt, verschwindet, Worte und Gefühle, aber keine Anwesenheit mehr hinterlässt. Unwiederbringlich gehen die Menschenleben verloren. Die Zeit rast. Was Mayröcker unternimmt ist ein grandioser Versuch, die Zeit zu verlangsamen, ihr Einhalt zu gebieten. Hierfür verwendet sie syntaktische Versperrungen. Sie schreibt „ß“ stets als „sz“ und verwendet Abkürzungen wie „kl. Testament“, um den Lesefluss zu stoppen, um das Lesen zu verlangsamen. Man kann schlichtweg nicht querlesen, schnell lesen, oberflächlich zur Kenntnis nehmen. „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ will langsam zu Gemüte genommen werden. Schließlich handelt es sich um die Botschaft eines sterbenden Menschen.

„Weil ich sehr alt bin, bin ich sehr langsam geworden ich sehe eine vergoldete Harfe im Fenster vis-à-vis, schreibe am liebsten Stenographie: spare dadurch viel Zeit, wir bringen dir bald eine Mozarttorte mit brennender Kerze“

Die Setzungen der Absätze, der Rhythmus, die Reime, die Beschreibungen, die Zeiten, alles geht ineinander über. Der Text liest sich wie eine ausgefeilte Fuge, Wiederholungen, in den Wiederholungen aber Erweiterungen, als hätte Mayröcker über die knapp 200 Seiten mehrere Gedichte durcheinandergewürfelt und so wiederum ein neues Gedicht erschaffen. Dieser entschleunigte Impressionismus erzeugt einen inneren Monolog, der ästhetisch so ausgefeilt komponiert ist, dass die Autorin scheinbar selbst zur Sprache kommt. Am Ende hält man ein Buch in der Hand, in welcher ein wirklicher Mensch gesprochen, sich mitgeteilt und fürwahr verewigt, ein Gespräch aus der Zeit gerissen, der Zeit abgetrotzt hat. Ihre Stimme, der Klang, die ineinander übergehenden Bilder und Wortfetzen fügen sich zusammen und ergeben das Gesamtbild einer dynamischen lebenslustigen Person, die nicht sterben wollte, weil sie noch so viel zu erleben und dichten und fühlen hatte.

Ein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur. Unbedingt lesenswert für den geduldigen, empathischen, interessierten Leser, der zwischen und mit den Zeilen, über die Zeilen, über Worte hinaus, mit Mayröcker das Leben lesen möchte. Wenige Bücher kommen diesem Text nahe. Am ehesten noch von Fernando Pessoa „Das Buch der Unruhe“ und von Sarah Kirsch „Das simple Leben“, oder von Helga Schubert „Vom Aufstehen“.

2 Gedanken zu „Friederike Mayröcker: “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”“

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