Halldór Laxness: „Am Gletscher“

Dem Wind und Wetter trotzen … eine Reise durch isländische Stille und Unaufgeregtheit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Der Stellvertreter des Bischofs, kurz Vebi, oder der Unterzeichnete genannt, reist an Stelle des Bischofs in eine kleine Gemeinde im Westen von Island zum Snæfellsgletscher, um dort seltsamen Geschehnissen auf den Grund zu gehen. Ausgelöst wurden die Sorgen des Bischofs durch einen Brief des dortigen Kirchenvorstehers Tumi Jonsen zu Brun, in welchem dieser berichtet, dass keine Gottesdienste veranstaltet werden, Begräbnisse ausfallen, insgesamt also dem Gemeindepfarrer Sira Jon Jonsson droht, seinen lutheranischen Amtspflichten nicht recht nachkommen zu können, ja, sogar Neubauten in direkter Nähe zur Kirche erlaubt worden sind, die den sakralen Charakter des Gebäudes unterminieren. Die Aufgabe des Stellvertreters werden vom Bischof klipp und klar formuliert:

„So wenig wie möglich sagen und tun. Die Augen offen halten. Über das Wetter sprechen. Fragen, wie der Sommer im vorigen und im vorvorigen Jahr war. Sagen, daß der Bischof Rheuma habe. Wenn Leute Rheuma haben, fragen, wo es sie quält. Nicht versuchen, etwas in Ordnung zu bringen – das ist unsere Angelegenheit im Kirchenministerium, sobald wir wissen, was los ist. Wir bitten um einen Bericht, das ist alles. Egal, was für irrige Ansichten und Märchen die Leute vorbringen, Sie sollen sie nicht bekehren. Nichts und niemand reformieren. Ihnen gestatten zu sprechen, nicht dagegen reden.“

Der Unterzeichnete hält sich strikt an diese Vorgaben und hieraus entspinnt sich ein komplexes Komplott aus vielen Meinungen, Aussagen, Handlungsfäden und Abschnitten, die kein klares, aber ein immer schärferes Bild von der Gemeinde zeichnen, in der im Grunde alle sehr zufrieden mit dem Pfarrer sind. Böses Blut gibt es gar nicht. Probleme auch nicht. Viel Verwirrung, viel Fragwürdiges, aber nichts Verächtliches. Nur von Worten, der Wahrheit, von Ordnung halten sie alle nicht viel. Geschichten bleiben immer Geschichten wie Jon Jonsson dem Unterzeichneten sagt:

„Sie dürfen nicht glauben, daß ich den Vertreter des Bischofs bitte zu schweigen. Ich meine bloß, daß Wörter, Wörter, Wörter und die Schöpfung zweierlei sind; zwei nicht zu vereinbarende Dinge. Ich sehe nicht, wie die Schöpfung in Wörter verwandelt werden kann, noch weniger in Buchstaben – nicht einmal in eine Lügengeschichte. Eine Geschichte ist stets etwas anderes als das, was wirklich geschehen ist. Die Tatsachen sind von dir abgerückt, ehe du die Geschichte zu erzählen beginnst. Eine Geschichte ist nur eine Tatsache für sich.“

Der Roman „Am Gletscher“ kann und will es seinem Publikum nicht leicht machen. In einer Form von Fugentechnik überlagern und synchronisieren und divergieren die verschiedenen Handlungs- und Stimmungselemente. Mittelpunkt jedoch bleibt das von Vögeln, Schafen und Pferden bevölkerte Stück Land an der Westküste Islands, dort, wo die Weite des Meeres auf den schroffen Fels prallt, Wind und Wetter über die Dächer und Menschen rollen, das Sonnenlicht sich im Schnee und Eis bricht, Regen, Morast, Holz und Gras, Fische und Kälte den Bewohnern das Leben erschweren und erleichtern zugleich. Über all dies thront der Gletscher:

„Wie Unterzeichneter weiter oben im Bericht erwähnt hat, steht der Gletscher zu gewissen Tageszeiten verklärt in einer besonderen Helligkeit da, in goldenem Licht von großer Strahlungskraft, und alles außer ihm wird armselig. Es ist, als gehöre der Berg nicht mehr zur Erdkunde, sondern sei in die Ionosphäre entrückt.“

Der Gletscher steht für das ewige Eis, das sein Geheimnis vor zudringlichen Blicken zu bewahren weiß. Vor diesem Naturspektakel treten zwischenmenschliche Probleme und Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund. Daher spricht der Stellvertreter des Bischofs von sich nur in der dritten Person, denn Personalien, Kausalitäten, Narrative gleich welcher Art lösen sich im gleißenden, vom Gletscher zurückgeworfenen Sonnenlichts gleichsam von alleine auf. Eine gewisse Ruhe umgibt alles, was rundum den Gletscher geschieht. Ähnlich wie „Im Namen der Rose“ von Umberto Eco bildet der Kriminalfall nur den äußeren Anlass eine besondere Atmosphäre zu beschreiben, in Ecos Roman die eines mittelalterlichen Klosters, in Laxness‘ Fall die des Gletschers. Der eigentliche Protagonist des Romans heißt Unaufgeregtheit. Der Pfarrer Sira Jon Jonsson strahlt sie aus und mit ihm der ganze Text. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, und mit sehr viel Humor und entriegelter Beobachtungsgabe handelt der Text im Grunde nur von der Haltung gegenüber dem Nichts.

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