Hervé Le Tellier: “Die Anomalie”

Hervé Le Tellier: "Die Anomalie"

Copy&Paste-Welt unterhaltsam, spannend, und einfallsreich. Eine Art Supra-Roman.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Was gibt es zu sagen, was noch nicht gesagt wurde, und was könnte geschrieben, was noch nicht geschrieben worden ist, und vielleicht spielt das alles keine so große Rolle. Hervé Le Tellier zeigt mit „Die Anomalie“, dass große Frage keine großen, vielleicht sogar gar keine Antworten bedürfen.

„Irgendjemand hat also irgendwo in der Galaxis eine Münze geworfen, und diese ist wahrhaftig in der Luft hängen geblieben.“

Der Roman ist eine Art Pastiche der Großliteratur-Verzweiflung. Wie es vom Präsidenten der Werkstatt für Potentielle Literatur zu erwarten ist (Oulipo: L‘Ouvroir de Littérature Potentielle), verführt er weniger mit Stil als mit Einfallsreichtum. Die nüchterne Sprache des Episodenromans ahmt Raymond Queneau und Georges Perec nach, aber ohne die Weitschweifigkeit (in „Das Leben Gebrauchsanweisung“) von diesem, noch der Melancholie („Zazie in der Metro“) von jenem nachzuahmen. Le Tellier hat seinen eigenen Zugang:

„Victor schreibt, ohne Hast, mechanisch. Nach allem, was er gelesen und übersetzt hat, darunter allzu viele hübsch verpackte Albernheiten, käme es ihm unanständig vor, die Welt mit einer weiteren Eselei zu behelligen. Ihn lässt die Vorstellung kalt, eine flammende Prosa entspringe aus der simplen «Bewegung der Feder auf dem Blatt», er glaubt nicht an seine «Allmacht über den Satz», es kommt nicht in Frage, dass er «die Lider schließt, um mit offenen Augen zu sehen», oder dass er sich an diesem seelenlosen Ort «der Welt entzieht, um ihm seine eigene Verwirrung aufzuprägen», und im Übrigen hütet er sich vor Metaphern.“

Das mathematische Kalkül von den Autoren um Oulipo geht deshalb selten auf, weil sie zu reflektiert, prosaisch, ja, arithmetisch an den Erzählgegenstand herangehen, quasi einem naturwissenschaftlichen Versuchsaufbau gleichen. Le Tellier jedoch vermag in „Die Anomalie“ die Nüchternheit und Kargheit aufzusprengen, indem er einen humoristischen Thriller à la Douglas Adams hinlegt, einen wirklichen „page turner“, der einfach nur amüsiert, einen schmunzeln lässt, der nicht langweilt, der überrascht, und ja, hier und da sogar zum Denken anregt.

Für den ganz unaufmerksamen Leser ist diese Literatur jedoch nichts. Wie in einem Episodenfilm so spannt auch dieser Roman einen Kosmos zwischen vielen, hier mindestens elf Figuren auf. Die Übersicht zu behalten, ist nicht so leicht, vor allem, weil man am Anfang noch wenig Grund hat, die Figuren interessant zu finden. Billige Schocker fehlen leider auch nicht. Billige Sexhudeleien hier und da stören auch nicht wirklich, und nirgendwo bricht sie Profanes in den Stil und macht dem Lesegenuss den Garaus.

„Die Anomalie“ ist in erster Linie eine sehr intellektuelle Variante von Michael Crichton Büchern, spannend wie ein John Grisham, ulkig wie ein Douglas Adams in „Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele“, literarisch selbst-referenziell wie Italo Calvino „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, und stilistisch nüchtern, aber feingeschliffen wie nur bspw. Marguerite Duras „Zerstören, sagt sie“ oder Michel Butor in „Der Zeitplan“ und Raymond Queneau aus „Stilübungen“.

Wer nur irgendeinen dieser AutorInnen mag, der wird mit „Die Anomalie“ seine Lesefreude haben. Garantiert. Wem intellektuelles Gefasel jedoch auf die Nerven geht, lieber Finger weg – es ist und bleibt eine gedankenspielerische Zwischenübung in Gute-Laune-Haben und trotzdem mit den Niederungen des Lebens Umgehen-Könnens.

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