Isabel Allende: „Violeta“

Hilfloses Irren durch die Weltgeschichte mit vorhersehbarem Fazit: Nur die Liebe zählt.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Der neue Roman von Isabel Allende „Violeta“ stellt eine fiktive Autobiographie der Protagonistin und Ich-Erzählerin Violeta del Valle dar, die im Alter von hundert Jahren ihrem Enkel Camilo Briefe schreibt, um aus ihrem Leben zu erzählen. Zumal Camilo als Jesuit-Priester in Armut lebt und den Bedürftigen Chiles hilft, aber auch, weil der besagte Camilo eine sehr bewegte Vergangenheit hat, versucht sie auf dem Sterbebett noch einmal Einfluss auf ihn zu nehmen, denn so richtig stellt der Lebenswandel ihres Enkels Violeta nicht zufrieden:

„Es war nicht das erste Mal, dass der Rektor Dich einer Teufelei bezichtigte. Er hatte mir schon früher damit gedroht, Dich der Schule zu verweisen, als Du auf das Maskottchen des Internats, eine Schildkröte, gekackt hattest und als Du wie eine Spinne an der Fassade der Zentralbank hinaufgeklettert bist, Dich dort an die Fahnenstange gehängt hast und die Feuerwehr Dich retten musste.“

Camilo protestiert gegen die Verhältnisse in Chile, und um diese Verhältnisse spannt sich die gesamte Romanhandlung auf. Vom ersten Weltkrieg, der Spanischen Grippe, über den Börsenkrach und die Weltwirtschaftskrise, über die ersten Ford T-Modelle, dem zweiten Weltkrieg, hin zu den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den Militärputsch 1973, der die demokratisch gewählte Regierung in Chile absetzte, und zu der Wiedervereinigung Deutschlands und der Corona-Krise wird alles von Allende abgedeckt. Für jeden Handlungsstrang eines politischen Großereignisses führt sie eine entsprechende Figur ein, deren Schicksal sich mit dem Ereignis verwickelt und verbandelt. Beispielsweise ihre Tochter Nieve mit den Vietnamkrieg-Protesten, ihr Sohn Juan Martín mit dem Militärputsch, ihr erster Ehemann Fabian Schmidt-Engler mit deutschen Exilanten in Südamerika, oder ihr Vater Arsenio mit der Weltwirtschaftskrise, aus der das Großunternehmen der Familie Bankrott hervorgeht:

„Die Begeisterung, der wesentliche Antrieb im Leben meines Vaters, war erloschen. Über Tag hielt er seine Panik mit Gin in Schach, nachts bekämpfte er die Schlaflosigkeit mit den Wundertropfen seiner Frau. Morgens erwachte er mit benebeltem Kopf und weichen Knien, schnupfte weiße Pulver, kleidete sich mühsam an und entkam vor den Fragen seiner Frau ins Büro, wo es nichts zu tun gab, als abzuwarten, wie die Stunden vergingen, und seine Verzweiflung zunahm.“

An den Beispielen lässt sich erkennen, dass die Sprache Allendes einfach, unkompliziert, leicht zu lesen ist. Sie verwendet keine komplizierten Satzstrukturen. Die Sätze sind kurz und kommen schnell zum Punkt. So gut wie keine aufwendigen Beschreibungen, rar gesägte Adjektive, lenken die Aufmerksamkeit rein auf die zwischenmenschlichen Probleme der Familie del Valle, derer es viele gibt. Der Vater ist ein Spieler und Patriarch, der ältere Bruder verliebt sich in Violetas lesbisches Kindermädchen, die Tochter Violetas wird drogensüchtig und prostituiert sich, der Geliebte Violetas arbeitet für die Mafia und Junta und der Sohn landet als rebellierender langhaariger Student im Militärgefängnis, um nur einige Probleme zu nennen. Um die offensichtlichen Zentrifugalkräfte zu bannen, mischt Allende Liebesszenen und romantische Stell-Dich-Ein hinzu, die oft in ihrer Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassen:

„Mit einem Fuß auf dem Boden saß er auf der Brüstung der Terrasse, in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen ein Glas Whisky, gekleidet in eine khakifarbene Hose und ein kurzärmliges weißes Hemd, das seinen Oberkörper und seine athletischen Arme gut zur Geltung brachte. Er strahlte etwas Sexuelles und Gefährliches aus, das war für mich schon aus etlichen Metern Entfernung deutlich spürbar. Anders kann ich das nicht sagen. Diese unwiderstehliche männliche Energie, die für Julián in seinen jungen Jahren typisch war, verließ ihn bis zu seinem Tod über vierzig Jahre später nie ganz. Unfähig, mich irgendwie zu rühren, nahm ich auf der Stelle mit einer Mischung aus Entsetzen und drängender Vorfreude hin, dass sich mein Leben hier und jetzt unwiderruflich wendete.“

Der neue Roman von Isabel Allende kommt als Kessel Buntes daher. Er erzählt aus dem Schwank, hält sich chronologisch an die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts und knüpft persönliche Schicksale von erfundenen Figuren rund um die Ereignisse. In vielerlei Hinsicht gleicht er dem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ von Simone de Beauvoir, aber ohne die Vorsicht und Reflektiertheit der französischen Existenzialistin, und in ihren Klischees und vorauseilenden Eindeutigkeiten in den Liebesszenen Ayn Rands „Atlas Shrugged – Der Streik“, jedoch ohne die Überzeugungskraft und Intensität der US-amerikanischen Alles-Zermalmerin.

Komplexität scheint Allendes Sache nicht zu sein. Sie nimmt die Geschichte zwar direkt bei den Hörnern, wird von ihr jedoch unkontrolliert mitgerissen. Am Ende bleibt nicht viel mehr zurück als eine große Hilflosigkeit und Hoffnung, es mag nicht alles vergebens gewesen sein. Hierfür hätte es aber nicht 400 Seiten Fließtext bedurft.

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