Jenny Erpenbeck: “Kairos”

Jenny Erpenbeck: "Kairos"

Trabantenstädte der Tristesse: Freie, sprachgewandte Literatur auf der Höhe der Zeit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“ reiht sich thematisch zunächst nahtlos in die typische Gegenwartsliteratur ein. Es handelt vom geteilten Deutschland, vom Leben in der DDR, von den Versuchen einer Vergangenheitsaufarbeitung, von Politik, Liebe und Sadomasochismus, von alter Mann trifft und liebt junge Frau, Braunhemden, Ostalgie und Walter-Ulbricht-Traumata. Überraschenderweise wendet sich das Blatt nach hundert Seiten jedoch. Waren die ersten Kapitel mühsam, karg, langweilig, geradezu nebensächlich, adjektivlos, flach, so beginnt nach etwa hundert Seiten eine Tour de Force der spracherfrischenden Fremd- und Selbsterforschung.

„Etwas beginnt, etwas geht zu Ende – oder erfüllt sich. Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“

Thema des Buches ist die seltsame, zerrüttete, schizophrene Liebe zwischen einem alteingesessenen DDR-Schriftsteller Hans und einer jungen Bühnenbildstudentin namens Katharina. Sie lernen sich in den späten 80er-Jahren Ost-Berlins kennen und erleben gemeinsam, getrennt, das Ende der DDR. Unglaubwürdig bleibt das Verlieben, das Annähern. Der Roman scheitert beinahe, bevor er anfängt. Die Liebe zwischen Hans und Katharina wirkt gewollt, konstruiert. Alles bleibt fern und beliebig in karger Protokollsprache verfasst. Offensichtlich fehlte der poetische Schwung, einen vierunddreißig Jahre großen Altersunterschied romantisch zu überbrücken.

„Und nun steht sie in seiner Küche und erfährt also, in welchem Fach die großen Teller sind, wo die kleinen, welches das schärfere Messer ist und wo die Streichhölzer liegen, mit denen die Gasflamme angezündet wird. Er sieht ihr dabei zu, wie sie die Eier am Rand einer Schüssel aufschlägt, und denkt, dass die Hausarbeit bei ihr wie ein Spiel aussieht.“

Wer jedoch weiterliest, wird belohnt. Die Banalität des Tristen nimmt eine ungeahnte Fahrt auf, sobald Katharina ihren eigenen Weg geht und auf ihre Rolle der masochistischen Gespielin eines frustrierten alten Mannes reduziert wird. Die DDR evoziert zwischen den Zeilen. Die Langsamkeit, die Leere, das Einsame und Karge, aber auch sehr Ruhige und Stille, vor allem das Ausweglose, Stillstehende. Je länger der Roman voranschreitet, desto mehr ziehen sich klaustrophobisch die Sätze ums Gemüt. Man kann kaum atmen. Man kann es kaum aushalten, die Trauer, die Hoffnung, die Perspektivlosigkeit. Es fehlt an allem. Es fehlt ein Außen, und es fehlt vor allem an Dynamik, Entwicklung, Fröhlichkeit des eigenen Erlebens. Die Beziehung zwischen Hans und Katharina steht symptomatisch für die politischen Hoffnung und Ideologien und gemischten Gefühle, und in kaum zu überbietender Brillanz vermag es Erpenbeck die Tristesse von Hüben und Drüben bloßzulegen, bis nichts mehr als die Trauer übrigbleibt, dass die Menschen entgegen Ingeborg Bachmanns Diktum die Wahrheit doch nicht ertragen. Allesamt nicht.

„Was er ihr vor einem Jahr geschrieben hat, fällt ihm ein: wie ein leeres, ausgeplündertes Haus fühle er sich, die elektrischen Leitungen aus der Wand gerissen, die Fenster vernagelt, die Vorhänge zugezogen, der Kleinkram, der hier und da noch herumliegt. So wird es auch hier bald aussehen, an einem Ort, der, solange er zurückdenken kann, belebt war. Das einstige Nobelrestaurant nur noch ein ramponierter Laden, genauso ramponiert wie das, was von ihrer Liebe übriggeblieben ist. Was für Hoffnungen sie damals hatten.“

„Kairos“ ist ein Abgesang auf Versöhnung. Franz Kafka sagte in einem Brief, es gebe unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns. Erpenbeck hat aus diesem Zitat ein Roman werden lassen, der hinsichtlich Rhythmus, Komposition, hinsichtlich des Sprachgefühls, des Spiels mit Andeutung, Paraphrasierung und Inszenierung von Sprachvergangenheiten und Narrationswelten in der Gegenwartsliteratur seines Gleichen sucht. Unbedingt empfehlenswert für alle Literaturbegeisterten. Eine Perle, wer das erste Drittel übersteht, sich von den abgeschmackten Plattitüden des Anfanges nicht in die Irre treiben lässt. Wer Christa Wolf vermisst, findet ihn Jenny Erpenbeck Trost und Kontinuität, selbstkritische, freie, sprachgewandte Literarizität auf der Höhe der Zeit. Danach beispielsweise „Kassandra“ von Christa Wolf lesen und „Gier“ von Elfriede Jelinek.

5 Gedanken zu „Jenny Erpenbeck: “Kairos”“

    1. Es ist wirklich ein sehr gutes Buch – sehr eigenartig spröder Anfang, aber mit ungewöhnlicher Dynamik. Am Ende war ich selbst baff, wie nah es mir ging, wie sehr ich in diese Welt versank und wieviel Mut aus diesen Sätzen entspringt. Wunderbare Literatur. Ich kann es wirklich empfehlen. Teilweise fühlte es sich wie “Der Tangospieler” von Christoph Hein an, nur viel virtuoser, poetischer. Bin gespannt, wie es gefällt.

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