Jessica Lind: “Mama”

Jessica Lind: "Mama"

Nichts für Zartbesaitete. Schockierend gelungene Darstellung eines Traumas.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Eine Hütte, verlassen im Wald, ohne Kontakt zur Außenwelt, ein Pärchen auf den Spuren der Vergangenheit – aus diesem Stoff werden für gewöhnlich Horror-Romane gezimmert, wie bspw. Stephen Kings „Das Spiel“, das nichts für zartbesaitete Gemüter ist. Jessica Linds Roman „Mama“ ist es auch nicht. Nur aus andersgearteten Gründen. Verbreitet Stephen King in seinen erbarmungslosen Schockern mit etwas billigen, nichtsdestotrotz wirksamen Mitteln Horror, gelingt Lind dies ohne jedwede Effekthascherei. Lind schreitet vielmehr den schmalen Grat der eigenen Zivilisiertheit ab, gerät aber hier und da aus dem Gleichgewicht und lässt einen teilweise übers Unheimliche und Bodenlose taumeln, mit rudernden, ausgebreiteten Armen einer sinnlos gewordenen Sinnsuche. Lesend bleibt man in ständiger Angst um Josef und Amira und ihre Tochter Luise befangen, um jene Familie, die sich in der besagten Hütte von ihrem Stadtleben zu erholen sucht.

„Josef lässt sich darauf ein, abzuwarten, solange Amira im Bett bleibt und sich ausruht, während er den Koffer und die Taschen ausräumt. Die Fahrt hat sie mehr angestrengt, als sie zugeben wollte. Ihr war schwindlig, sie hat kurz das Bewusstsein verloren, der Rest war eine Halluzination, ein Traum. Sie hat niemanden gesehen, nicht einmal die Tür hat sie geöffnet. Seit sie schwanger [mit Luise] ist, sind ihre Träume lebendiger. Sie träumt von der Geburt. Sie träumt vom Wald.“

Jessica Lind erforscht in „Mama“ der Sinn selbst, jene Diaspora des modernen Individuums, das sich in die eigenen Illusionen zu verlieren sucht, nur um immer tiefer mit sich selbst in Misskredit zu geraten. Diese Entfremdung, meist Anathema und eine eigene Dialektik der Aufklärung, dringt plötzlich selbst zu Wort, bricht sich Bahn, und das Resultat gerät zum Zeugnis einer Welt, die völlig aus den Fugen geraten ist. Durchgängig spielt Zerbrechlichkeit in die Sprache. Alles ist nah am Zerfall, unklar, undeutlich. Die Sprache überdeckt, beschwichtigt lediglich über den zugrundeliegenden Abgrund hinweg. Alles steht stets kurz vor dem Verschwinden ins Nichts. Der Mond glimmt durchs zerbrechliche Geäst. Es knackt und knirscht. Alles ist fremd, unnahbar, nackt und bedrohlich.

„Wipfel wachsen aus der Zimmerdecke und wogen im Wind. Sie liegt im Bett in der Hütte, aber über ihr ist der Nachthimmel. Wenn sie ihre Hand ins Laken gräbt, spürt sie das Gras, die Erde unter ihren Fingernägeln. Sie versucht etwas zu sagen. Kein Ton kommt ihr über die Lippen. Ihre Atmung wird schneller. Sie weiß, dass Josef neben ihr liegt, aber außer den Fingern kann sie nichts bewegen, nur daliegen und die Sterne anstarren.

Der Stil ist erbarmungslos. Die Sätze sind kurz, rasant. Das Lesen gerät in einen taumelartigen Sog. Schnell vorüberhuschende Impressionen, Eingebungen, und das semantische Entgleiten einer sicher geglaubten Realität. Leider mischt sich hier und da Jugendsprache in den kargen Stil und unterbricht empfindlich den Lesefluss. Auch die fehlende Integration der Geschichte von Josefs Vater irritiert. An manchen Stellen wirkt das Buch zu straff, an anderen nicht straff genug. Wieso nach zwei Drittel beispielsweise die Stadt Wien erwähnt wird, obwohl der allegorische Hintergrund völlig losgelöst bleibt, lässt sich auch nicht verstehen.

Jessica Lind ist mit „Mama“ ein Horror-Roman der besonderen und sehr literarischen Sorte gelungen. Selten gelingt eine Gruselgeschichte auf so diffizile Weise. Es ist fast einzigartig, eine Negativwendung von Sylvia Plath „Die Glasglocke“ und Marlen Haushofers „Die Wand“, ohne jedweden kommunikativen Utopismus. Jessica Lind konfrontiert mit einer erbarmungslosen Stillosigkeit, die ihr Beispiel sucht. Sehr zu empfehlen. Eine harte, aber lohnende Lektüre.

Wer „Mama“ gut findet, kann auch in „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch hineinschauen. Beide sind für den Bloggerpreis „Bestes Debüt 2021“ nominiert.

2 Gedanken zu „Jessica Lind: “Mama”“

  1. Vielen Dank für diese Rezension. Ich fange an , die Geschichte rein durch den zweiten Blick besser zu erfassen. Habe schon mehrere Rezensionen gelesen zu diesem Buch. Es bleibt eine Irritation, vermutlich dem Surrealen geschuldet.

    1. Auf seine Weise ist dieses Buch außerordentlich. Es tanz dermaßen aus der Reihe, dass sich die Lektüre wirklich lohnt. Es lernt das Fürchten auf eine sehr metaphysische Weise. Grausam und krass – es hat hier und da Schwächen, wenn die Sprache in den Disco-Jargon abgleitet (also plötzlich “fuck” geschrieben steht – ich war völlig schockiert), aber das passiert nur an eine Handvoll von Stellen. Aber Surrealismus trifft es gut, jetzt, wo du es sagst, vor allem weil dieser ja das Unbewusste der Psychoanalyse literarisch erforschte. Exakt dies unternimmt Lind. Stimmt. Danke für den Hinweis, manchmal sind man ja den Wald vor lauter Bäumen nicht 🙂

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