Jonathan Franzen: “Crossroads”

Jonathan Franzen: "Crossroads"

Unentschieden, zäh, und konfliktscheu, oder von der Kunst, Probleme zu zerreden.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Der Roman „Crossroads” von Jonathan Franzen ist ohne Frage opulent. Er passt sich nicht den Lesegewohnheiten der Neuzeit an. Weder im Twitter-Format noch im SMS-Stil schlängeln sich bandwurmartige Sätze über die Seiten, die einen das eine oder andere Mal schwindeln lassen. Schwierig zu lesen sind die Sätze jedoch nicht. Jonathan Franzen bleibt stilistisch dem Journalismus verpflichtet. Nur eben geht er weit über das Zeitungsartikelmaß hinaus. Fast 1000 Seiten füllt der Text über die Familie Hildebrandt in New Prospect in der Nähe von Chicago. Aber Franzen fängt lieber, belletristisch, ganz von vorne an:

„Beginnen wir stattdessen mit der Betrachtung einer Frage, die auf den ersten Blick trivial, unbeantwortbar oder sogar unsinnig erscheinen mag: Warum bin ich ich und nicht jemand anders? Blicken wir in die schwindelerregenden Abgründe dieser Frage …“

In „Crossroads“ geht es schlicht gesagt um alles, das Universum und den ganzen zwischenmenschlichen Rest. Kaum ein Gefühl geht unüberleuchtet an Franzens Vivisektopie vorüber. Von Eifersucht, Hass, über Wut, Abhängigkeit, zu Erleuchtung, Scham, Peinlichkeit und Schuld, alles wird thematisiert. Nicht nur einmal, nein viele Male, immer wieder, von vielen Perspektiven, denn der Roman liest sich auktorial aus der Sicht von Marion und Russ Hildebrandt, Vater und Mutter, und den vier Kindern, Clem, Becky, Perry und Judson. Das Mikrouniversum bündelt sich, nimmt irgendwann sehr an Fahrt auf, wiewohl man bei den vielen handelnden Figuren stets ein wenig im Ungewissen bleibt. Man fragt sich bei den ersten Hunderten Seiten, was man sich von diesem Mammutprojet erhoffen soll. Man bleibt ratlos, etwa wie Perry bei der Frage, ob er seine Schwester wirklich und nicht nur aus Gewohnheit mag.

„Die Abwesenheit von Negativa ergab nicht zwingend ein Positivum. Es konnte sein, dass sich dem Auge lediglich kein Widerstand bot, wie bei einem unsichtbaren Ballon an einer Schnur. Rasend gemacht vom Anblick einer straffen, senkrechten Schnur, die im Nichts endete, liefen die Menschen ihr hinterher und dachten, es müsse, weil sie das taten, etwas extrem Begehrenswertes daran sein.“

Wirklich eindrucksvoll wird der Roman nie. Das hat mit vielem zu tun, vor allem mit der Farblosigkeit vieler Figuren mit Ausnahme von Marion. Er wirkt nie bemüht. Stilistisch gekonnt schmiegen sich die Sätze aneinander, aber weshalb man sich für eine Seifenoper aus Buchstaben interessieren sollte, bleibt fraglich. Es spinnt sich ein Netz aus Lügen, Unsicherheiten, Eitelkeiten. Irgendwie verständlich, aber irgendwie auch allzu alltäglich. Der große Wurf gelingt nicht. Franzen exponiert sich nicht. Er versteckt sich hinter Banalem. Nur selten durchbricht die Textmasse ein Hauch us-amerikanischer Wirklichkeit, eine Metropolen-Wirklichkeit, die einen ganz anderen stählernen Rhythmus besitzt als viele europäische Städte.

„In der Stille des verwaisten Campus hörte er [Clem], ganz leise und schwach, die Gewaltigkeit von Illinois – das Gerumpel eines Güterzugs, das Stöhnen von Sattelschleppern, mit denen aus dem Süden Kohle, aus dem Norden Autoteile und aus der Mitte gemästetes Vieh und atemberaubende Maiserträge herantransportiert wurden, denn alle Straßen führten zur am See gelegenen Stadt der breiten Schultern. Es tat ihm gut zu merken, dass die weitere Welt noch existierte; er fühlte sich dadurch weniger verrückt.“

Wer beinahe 1000 Seiten ohne Plot schreibt, legt keinen einfachen Unterhaltungsroman vor. Wer keinen einfachen Unterhaltungsroman vorlegt, misst sich mit James Joyce „Ulysses“, Virginia Woolf „Die Wellen“, mit Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, oder mit Jane Austens „Mansfield Park“. „Crossroads“ besitzt nicht im Mindesten die Sprachfröhlichkeit und -mächtigkeit dieser AutorInnen, nicht im Ansatz, obwohl an vielen Stellen gewollt, an manchen sogar beinahe vollzogen, aber nie wirklich gekonnt. Zu einfach ist das Beschriebene, zu flach das Problem, zu wenig detailfreudig und personenbezogen die Erzählung.

Jonathan Franzens Neuling ist nicht schlecht. Der Roman wirkt nur unentschieden. Sollte es ein zeithistorischer Roman sein? Eine Generation beschreiben? Eine Stimmung einholen? Wollte es gar eine Kierkegaardsche Glaubensabmessung in Pascalscher Provenienz werden? Man weiß es nicht. Es ist am Ende nichts und ein bisschen von allem. Das Thema Religion wird nachgerade oberflächlich abgehandelt, tiefenpsychologisch außen vorgelassen. Drogenkonsum zwar thematisiert, nicht verharmlost, aber unpoetisch analysiert. Die Frauenbewegung angedeutet, aber mit Nebensätzen abgehandelt, und der Vietnamkrieg und/oder -konflikt als Hintergrundgeschehen benutzt, um anhand von ihm Privatprobleme zu artikulieren.

Die Vivisektion der 1970er Jahre der USA mag in „Crossroads“ von Jonathan Franzen durchaus gelungen sein, aber zu welchem Ende? Am Ende überkommt das Gefühl, jemand habe sich ob der Sprachmächtigkeit ein Thema gewählt und es als Fingerübung durchexerziert. Als Fingerübung ist es gelungen. Als Roman nicht. Ich jedenfalls habe mich mit „Das letzte Gefecht“ von Stephen King viel mehr unterhalten gefühlt, und Dorothy Miller Richardson hat mit ihrem Romanzyklus „Pilgrimage“ mehr zustande gebracht. „Crossroads“ landet irgendwo dazwischen im Niemandsland.

2 Gedanken zu „Jonathan Franzen: “Crossroads”“

  1. Deine Rezensionen sind wirklich ( in der Jugendsprache meiner Kinder würde Krass das richtige Wort sein. Wann liest du das alles? Kierkegaard, Lucas, Hölderlin, Homer?
    Ich bin neidisch, ist ja eigentlich auch Sünde. Ich hab Franzen versucht und bin grandios gescheitert, kam einfach nicht rein. Aber deine Rezension habe ich sehr gern gelesen.

    1. Vielen Dank!! Ehrlich gesagt, vor einem Jahr hätte ich Franzen noch nicht einmal versucht zu lesen. Mir ist irgendwann aber aufgefallen, dass ich in den Klassikern steckenbleibe und mich nicht von ihnen fortbewege (Hermann Broch, Virginia Woolf, Friedrich Hölderlin … Vergil, Dante, Christa Wolf … Ingeborg Bachmann, Marcel Proust, Agustina Bessa-Luis, Peter Weiss etc …), also habe ich mir vorgenommen, meine Kleinkariertheit zu überkommen und Bestseller der Gegenwartsliteratur zu lesen, sofern es keine Krimis sind. Ich verstehe also voll und ganz, dass man bei “Crossroads” aufgibt 😀 … tatsächlich aber nimmt es wirklich an Fahrt gegen Ende auf, so sehr, dass ich bereit bin, den zweiten Band ebenfalls zu lesen. So schwach sie auch ist, Franzen versucht wenigstens Sprachmelodie zu erzeugen. Das habe ich ab Seite 200 zu würdigen gelernt. Er ist dennoch ‘journalistisch’ geblieben, oder ‘feuilletonistisch’, oder wie immer man diesen glatten Stil nennen möchte, mit Werfels Musa Dagh hat das nichts zu tun … leider

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