Judith Hermann: “Daheim”

Friedliche Zeilen in entfremdeter Zeit – unbedingt lesenswert.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2021…

Judith Hermanns Roman handelt von einem Fluchtstück, Neubeginn, von Meer, Dünen und den zarten Zeilen wortkarger Freunde, die einer heimatlosen Frau eine Ahnung von dem geben, was andere ein Zuhause nennen. Während sich die Tochter auf Weltreise befindet und ihre Koordinaten durchgibt, der Ex-Mann auf die Apokalypse wartet und sich in seinem Archiv verkriecht, erschließt sich die Protagonistin neue Welten direkt vor ihrer Tür, scheut nicht den Schmerz, noch die Enttäuschung.

“So weit weg am Rand des Kontinents und da, wo die Dinge sich verschärfen. Ihre Koordinaten entfernen sich, sie tritt in ein Gewässer ein, das ungefähr ist und auf den Landkarten nicht mehr vermerkt. Als wäre die Welt eine Kugel, die aufbricht, sich in ein Universum ergießt.”

Nirgendwo Sensationslust, harsche Worte. Nirgendwo Gewalt, Mord oder Totschlag – Hermanns Sprache überzeugt rhythmisch, lyrisch durch das Auslassen des Schmerzes, in der Andeutung des Tiefen mittels Oberflächenverzerrungen. Sie erinnert stark an Robert Walser, an den Lieblingsautoren Franz Kafkas, der in “Jakob von Gunten” vom Institut Benjamenta berichtet. Die harmlosen Formulierungen, Beschreibungen umkreisen das Unheimliche, eine Welt, die gefühlt, erlebt wird, eine Reise ins Innere, wie in Kafkas “Schloss”, ohne zu wissen wohin und wozu und warum eigentlich.

“Keine einzige Möwe, auf dem Deich eine Kette von Schafen mit fragwürdigem Ziel.”

Bekanntlich schrieb Walter Benjamin in “Einbahnstraße”: “Glücklich sein heißt, ohne Schrecken seiner selbst innewerden können.” Dieses Glück bleibt der Protagonistin auf eigenartige Weise versagt, geht sie sich doch irgendwie am Ende wie am Anfang, selbst in die Falle, dennoch drückt sich Zuversicht in den Gedanken der Protagonistinnen aus, dass Widerstandskraft eine Einstellung und kein Schicksal ist.

Mit “Daheim” ist Judith Hermann ein wunderbarer Gegenwartsroman gelungen. Die karge Sprache deutet an, worüber nicht mehr ohne Scham gesprochen werden kann, aber es ist da, zwischen den Zeilen, sorgsam gewählten Wörter, Abschnitten und rhythmisierten Landschaftsbeschreibungen, Glück – und sei’s nur in der Retrospektive.

Ich empfehle Robert Walsers “Jakob von Gunten” und “Der Gehülfe”, sowie von Alfred Kubin “Die andere Seite” oder Hermann Hesses “Demian”, falls Hermanns sentimentale Ornamentlosigkeit gefiel, oder von Ulrich Plenzdorf “Die neuen Leiden des jungen W.” aber besonders von Anne Michaels “Fluchtstücke”.

Ein Gedanke zu „Judith Hermann: “Daheim”“

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