Jürgen Habermas: „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Hilflos und haltlos durchs Internet-Zeitalter.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Unter dem Titel des neuen Aufsatzes von Jürgen Habermas „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“ lässt sich viel vermuten. Es könnte eine Untersuchung des Internets sein als mediale Struktur und kommunikationsverändernde Technologie. Es könnte auch auf eine Studie zur Stimmung und Demokratiemüdigkeit in spätkapitalistischen post-postmodernen Nationen verweisen. Oder, es könnte eine Selbstkritik anzeigen, eine mögliche Abrechnung mit den eigenen Jugendsünden aus der 1962 erschienen Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“. Nichts von all dem ist jedoch der Fall. Es ist vor allem eine moralische Schrift:

„Von den Staatsbürgern wird erwartet, dass sie ihre politischen Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Selbstinteresse und Gemeinwohlorientierung treffen. Wie gezeigt, tragen sie diese Spannung im Kommunikationsraum einer politischen Öffentlichkeit aus, die grundsätzlich alle Bürgerinnen als Publikum einbezieht.“

Habermas unterscheidet diesbezüglich, mehr oder weniger streng, zwischen Gesellschaftsbürger und Staatsbürger. Der Gesellschaftsbürger, der im privaten Raum seine eigenen Interessen verfolgt, wandelt sich in der Öffentlichkeit zum Staatsbürger, der das Gemeinwohl im Blick behält. Das Austarieren dieser Sphären liegt Habermas am Herzen. Hierfür bedarf es aber einer gemeinschaftlich anerkannten Bezugsebene, welche ihm teleologisch die Summe der Tatsachen als Wahrheit verbürgt:

„Aber mit ihrem Fluss von täglich erneuerten Informationen und Deutungen bestätigen, korrigieren und ergänzen die Medien laufend das unscharfe alltägliche Bild einer als objektiv unterstellten Welt, von dem mehr oder weniger alle Zeitgenossen annehmen, dass es auch von allen anderen als »normal« oder gültig akzeptiert wird.“

Diese Wahrheit muss von verantwortungsvollen Journalismus kreiert werden, also von einer zurechenbaren Instanz, die die Normalität repräsentiert und alle wichtigen Fakten und Prozesse inkludiert. Diese Instanz sieht Habermas von Informationskonzernen gefährdet, die mit Daten wie mit Waren umgehen und diese nur zur Gewinnsteigerung verwenden, und von amateurhaften Berichterstattungen ohne qualitätsversichernder Filterungsmechanismen, die die Öffentlichkeit mittlerweile überfluten:

„Die Anpassung an die Konkurrenz im Internet verlangt Veränderungen in der journalistischen Arbeitsweise. Auch wenn der »audience turn«, also die stärkere Einbeziehung des Publikums und eine größere Sensibilität für Leserreaktionen nicht von Nachteil sein müssen, verstärken sich die Tendenzen zu einer Entprofessionalisierung und zum Verständnis der journalistischen Arbeit als einer neutralen, entpolitisierten Dienstleistung.“

Dieser von Habermas bekundete Qualitätsverlust lässt sich seiner Meinung nach nur durch Schaffung einer Medienstruktur aufhalten, die ein verpflichtendes Realitätsbild gegen viele Halböffentlichkeiten und Halbwahrheiten durchsetzt, also eine Öffentlichkeit gegen Verzerrungen und Kommodifizierung verteidigt. Mit anderen Worten bricht Habermas eine Lanze für den klassischen, sich verantwortlich zeichnenden Journalismus wie ihn der öffentlich-rechtliche Rundfunk repräsentiert:

„Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher, und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr gewährleisten kann.“

Hier aber hört der moralische Appell auf, denn wer was entscheidet und wie welche Entscheidungsprozesse aussehen, wer die Filter auswählt, wer was selegiert und als relevant empfindet, kann und muss unklar bleiben, schließlich entscheidet nach Habermas die Öffentlichkeit selbst darüber. Der Aufsatz „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit“ stellt sich nicht der Frage der Informationsüberflutung und des Spams noch der neuen Arbeitswelten in Kunst und Kultur. Er betont lediglich die Rolle der Öffentlichkeit, die das räsonierende Staatsbürgertum kreiert, um seine Interessen in der politischen Entscheidungsbildung durchzusetzen. Wo aber das Staatsbürgertum aufhört, wo das Gesellschaftsbürgertum beginnt, wo also Öffentlichkeit und Privatheit sich trennen, welche Funktionen sie noch haben, das müssen die Teilnehmenden im Einzelfall selber entscheiden. Habermas scheint jedenfalls keine andere Quelle der Meinungsbildung zu kennen als die Presse. Der Funktionskreis Arbeitswelt taucht gar nicht erst auf, noch Familie oder Freizeit. Ohne qualitäts- und wahrheitssichernden Journalismus scheint ihm das Leben nicht mehr lebenswert und das einzelne Individuum dem Wahnsinn preisgegeben:

„In einer schwer vorstellbaren »Welt« von Fake News, die nicht mehr als solche identifiziert, also von wahren Informationen unterschieden werden können, würde kein Kind aufwachsen können, ohne klinische Symptome zu entwickeln.“

Ob aber eine assertive Verortung von Relevanzbestimmung und Realitätssicherung von oben herab die Lösung ist, darüber schweigt sich Jürgen Habermas beharrlich aus und worin der Strukturwandel überhaupt besteht, auch. Er ist einfach besorgt und tut es kund. Wer möchte es ihm verdenken?

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