Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“

Zwischen Welten

De- und Re-Radikalisierung als poetisch-ästhetisches Prinzip

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Juli Zeh und Simon Urban haben einen Brief-, also E-Mail-/Whatsapp-Roman verfasst. Die Gattungsbezeichnung „Roman“ auf dem Cover verweist darauf, dass die beiden Hauptfiguren und/oder die Handlung selbst allein der Imagination der Autorin und des Autoren entsprungen sind. Der Umstand, dass zwei Namen, einer groß und rot, Juli Zeh, der andere kleiner und schwarz, Simon Urban, auf dem Cover gedruckt worden sind, klärt über eine schwebende Autorenschaft auf. Es bleibt auf diese Weise völlig im Unklaren, wer für was sich verantwortlich zeichnet und hierin steckt wohl auch die versteckte Botschaft des Romans, die fehlende Zurechenbarkeit, und daher sein Name „Zwischen Welten“:

„Es ist schön, hier zu sitzen. Nur ich und der Bildschirm. Draußen ist es noch ganz ruhig, keine Leute auf dem Hof, kein Maschinenlärm. Manchmal schreit eine Kuh. Ich kann abtauchen in meine innere Welt. In den unendlichen Kosmos der Wörter. Für dich ist das normal. Für mich ist es wie vier Wochen Tauchurlaub auf einer inneren Insel.“

Die „Zwischen Welten“ beziehen sich insofern auf den digitalen Kosmos zwischen den Briefschreibenden. Von Bildschirm zu Bildschirm findet die Kommunikation zwischen Theresa Kallis und Stefan Jordan statt. Beide haben gemeinsam studiert und über Literatur diskutiert, lebten in einer Wohnung, aber führten damals keine Liebesbeziehung. Zumindest Stefan betrauert dies explizit. Theresa brach ihr Studium ab, um den Bauernhof ihres Vaters zu übernehmen, und Stefan stieg zum stellvertretenden Chefredakteur der, innerhalb der Romanwelt bedeutsamen, Wochenzeitung „Der Bote“ auf. Hier setzt die Handlung an. Vielmehr das Gespräch:

„Hallo Tessa, normalerweise stört es mich nicht, dass ich allein lebe – alleine bin, muss man wohl sagen. Aber jetzt fällt mir plötzlich auf, dass da niemand ist, wenn ich nach Hause komme. Niemand, dem/der ich Herz und Hirn ausschütten könnte. Ich sitze mit dem dritten Gin Tonic am Fenster und starre raus zum Wasserturm. In meinem Kopf ein Gedanken-Stausee, und niemand da, um den Stöpsel zu ziehen. Die Stille in der Wohnung ist aufdringlich. Ich habe es mit lauter Musik versucht. Aber man kann die Einsamkeit nicht per Spotify abschalten. Dadurch wird sie nur noch größer.“

In völlig unvermittelter Alltagssprache deckt der Roman den Zeitraum vom 05. Januar bis 04. Oktober 2022 ab. In E-Mails und Whatsapp-Nachrichten beleidigen, bekriegen, umflirten und umschwärmen sich Theresa und Stefan gegenseitig, suchen den Halt im anderen, den sie aus sich heraus nicht mehr zu finden vermögen. Sie kommen aus verschiedenen Welten. Sie haben verschiedene Lebensrealitäten. Sie reden aneinander vorbei, radikalisieren sich auf ihre Weise, de-radikalisieren und re-radikalisieren sich bunt umher. Planlos sind beide. Überfordert, mitgenommen, von Problemen und Herausforderungen der Gegenwart aus dem Gleichgewicht gebracht, wirken sie wie Marionetten und Spielbälle unbekannter, unsichtbarer Kräfte, nämlich der digitalen, entfremdeten, unnahbaren Globalisierungs- und Internet-Welt. Theresa:

„Während der Fahrt habe ich an dich gedacht. Ich bin immer noch wütend auf dich, dabei sollte ich vor allem auf mich selbst wütend sein. Der Depp bin ich. Normalerweise lege ich solchen Wert auf Sachlichkeit, aber von dir habe ich mich voll aufs Glatteis führen lassen. Ein digitaler Flirt, ein bisschen träumen. Ponyhof für Erwachsene.“

Und als vermittelte Antwort irgendwann Stefan:

„[Die Illusion] lindert den Schmerz für einen kleinen Moment. Wir haben beide gekämpft und verloren, Theresa – jeder auf seine Weise.“

Zehs und Urbans „Zwischen Welten“ thematisiert alles, was gegenwärtig in den digitalen Sphären Rang und Namen hat. Der Roman kreiert zwar Figuren, aber er hat keinen eigentlichen Plot. Der gegenteilige Fall tritt häufiger auf, nämlich bei Unterhaltungsromane, die mit viel Handlung, aber wenig Figuren aufwarten können. Dies allein erlaubt es „Zwischen Welten“ jedoch nicht, sich von anderen Texten dieser halbjournalistischen Machart abzuheben. Die Sprache kratzt nicht an der Oberfläche. Sie wischt an ihr vorbei.

„Man könnte ja auch sagen: Cooles Projekt, eindeutig politische Kunst. Genauso muss man es machen – eingefahrene Kommunikationsbahnen verlassen, aufrütteln, die Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien bedienen. Nur so geht etwas voran.“

Zudem, was in der Gegenwartsliteratur häufiger der Fall ist, verrät der Roman seine eigenen Figuren. Er fällt ihnen ins Kreuz und lässt sie erbärmlich und schwach und lächerlich dastehen. Beide, Theresa wie Stefan rennen Anerkennung, Lobhudelei hinterher, schmollen, tanzen, leben in einem manisch-depressiven Auf-und-Ab durch den Tag und träumen von der ganz ganz großen Liebe. Sie träumen von einer gemeinsamen Pilgerreise zu Martin Walsers-Haus am Bodensee oder von einer Flucht verkleidet als Bonny und Clyde nach Palermo. Sie träumen von einer besseren Welt, während um sie herum, so der Roman, alles in Schutt und Asche fällt.

Kurz: Zeh und Urban mögen die gegenwärtige Debattenkultur genauso wenig wie ihre Hauptfiguren. Wer also Freude daran hat, etwas nicht zu mögen, wird in „Zwischen Welten“ fündig werden.

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