Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“

Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik“

Abgeklärte Resignationslosigkeit … eine literarische Atempause als Ruhe vor dem Sturm.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Einer Erfahrung ein historisches Bild zu verleihen und jenes aus dem Fluss der Zeit herauszubrechen, gehört zu den erstaunlichsten Wirkungsweisen eines Romans. Die Verwandlung von Kontinuität in Diskontinuität erlaubt es, rückläufig wieder anzuschließen und aufzuschließen, und Kommunikationspotential zu erschließen, die sonst anderweitig vor sich hinschlummern müssten, ohne ihren Erfahrungsgehalt entfalten zu können. Katerina Poladjan hat den 80ern Jahren der kurz vor ihrem Ende stehenden Sowjetunion ein Kleinod entrissen und in „Zukunftsmusik“ zu einer Allegorie auf Veränderung verwandelt. Der Roman glänzt und schimmert und funkelt.

“Die Sonne stand tief über dem Wasser des schwarzen Flusses, auf der anderen Seite leuchtete die Fabrik von elektrischem Schein umkränzt, davor das abschüssige Ufer. Es war warm wie an einem Sommerabend, und doch lagen zwischen den Hügeln auf den Rasenflächen Schneereste. Im Osten das Wäldchen, ein dunkler Schattenriss, und ungewöhnlich kleine Kirschbäume blühten in voller Pracht unter einem wolkenlosen Himmel.”

Inhaltsangabe (ohne Spoiler): Der Handlungsrahmen von „Zukunftsmusik“ wird von einer Gemeinschaftswohnung nahe einer Radarstation „Tausend Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau entfernt“ gebildet. In dieser Kommunalka befinden sich mehrere Parteien. Eine ausgezeichnete Hauptfigur gibt es nicht. Am ehesten kommt ihr Janka nahe, eine junge Mutter, die gerne singt und trotzig ist und auf eine Musikerkarriere hofft. Um aus dem grauen Alltagstrott entfliehen zu können, gibt sie ein selbstorganisiertes Konzert, ein Kwartirnik, zu dem sogar ein berühmter Künstler erscheinen soll. Wie in diese Karrierepläne ihre Tochter Kroschka hineinpasst, die von ihrem Ehemann verlassene und etwas einsame Mutter Maria und die verwitwete, fürsorglich besorgte Großmutter Warwara, weiß sie selbst nicht richtig.

“Woran erinnern Sie sich, Janka? Lassen Sie mich überlegen – ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt. Wenn Sie vor einem Publikum singen, was empfinden Sie? Es ist wie ein Traum. Sind Sie auf der Bühne Sie selbst? Was soll das sein, ich selbst. Woher kommt die zerstörerische Kraft in Ihren Liedern? Ich schöpfe meine Kreativität aus der Zerstörung, ich räume mit dem Gefühlsdreck auf.”

Katerina Poladjans fusioniert in „Zukunftsmusik“ direkte und indirekte Rede ununterscheidbar ineinander. Die Sätze fließen zusammen, auseinander. Je aus den verschiedenen, an der Situation beteiligten Figuren wird berichtet, erzählt, sehr individuell, mit Erinnerungseinschüben, Fragmenten der je eigenen Geschichte, die nach und nach ein sentimentales, tapferes, aber auch um Trost bemühtes Leben nachzeichnen. Die Erzählweise verliert sich nicht in Details. Sie hüpft mutig und fröhlich von Szene zu Szene, vor allem, weil die Figuren so selbstbestimmt und vorlaut durch die Welt gehen, stets auf die Einhaltung einer Mindesthöflichkeit und eines Mindestabstands bedacht:

“Kein Gestirn, keine Sonne hatte das Recht, so weit in die Umlaufbahn der anderen einzudringen, dass es zu den unabsehbaren Folgen kam, die sich nun in der schrecklichen Unordnung seiner [Matwejs] Gedanken [angesichts von Marias Morgenrocksaum] ausdrückten.”

Der nur knapp zweihundert Seiten lange Roman verdichtet alles. Nichts ist zu viel, nichts zu wenig ausgeführt. Alle Gespräche, Beschreibungen, alle Dinge, die erwähnt werden, Neben- und Kreuz- und Parallelhandlungsstränge finden stets zusammen und unterstützen die Atmosphäre einer Welt, die kurz vor dem Zusammenbruch steht. Alles wird sich für die Beteiligten nach dem Tod von Tschernenko ändern, und „Zukunftsmusik“ handelt von diesen kurzen, wenigen, ruhigen Momenten davor.

„Zukunftsmusik“ erinnert stark an Romane wie „Der Tangospieler“ und „Der fremde Freund“ von Christoph Hein, nur mit weniger Melancholie, mit weniger Selbstmitleid. Stanislaw Lems „Solaris“ besitzt eine ähnliche Atmosphäre, jenes Zusteuern auf ein Ereignis, das nicht mehr gestoppt werden kann, diese Ruhe vor dem Sturm, wo nicht mehr die Illusion von irgendeiner Kontrolle mehr existiert, wo alle nur noch wechselwirkend um Schadensbegrenzung bemüht sind. „Der Kristallwelt“ von J.G. Ballard und Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ drehen sich ebenfalls um ein Geheimnis, um eine Leerstelle, die alles unterminieren und mit sich reißen wird.

Aber im Gegensatz zu den pessimistischen Untertönen dieser Romane besitzt „Zukunftsmusik“ eine naive, fröhliche Unbekümmertheit. Unbedingte Leseempfehlung.

2 Gedanken zu „Katerina Poladjan: „Zukunftsmusik““

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