Leona Stahlmann: „Diese ganzen belanglosen Wunder“

Leona Stahlmann: „Diese ganzen belanglosen Wunder“

Ein literarisches Leuchten aus Sprachfreude und Zeittraurigkeit heraus.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Dieser Roman strahlt eine Intensität gleich der eines einsamen Sternes aus. Das Licht reist durchs Nichts. Es erhellt das Dunkle, ohne es aber zu verdrängen. Statt dessen wird das Dunkle noch dunkler, aber das Helle auch heller. Leona Stahlmanns Roman „Diese ganzen belanglosen Wunder“ beschreibt einen zivilisatorischen Endzustand. Die Welt liegt in Trümmern. Die Isolation und Vereinsamung der Menschen nimmt zu. Sie suchen und versuchen über die Runden zu kommen, aber wissen schon lange nicht mehr wieso, fast als wäre die Utopie nur noch ein physischer Reflex:

„Ich habe keinerlei Anlass, an etwas zu glauben, das weiter entfernt als morgen. Ich bin niemandem etwas schuldig, schon gar kein Übermorgen, keine nächste Woche. Aber ich kann es einfach nicht lassen. Ich würde es niemals laut sagen. Ich glaube an die Zukunft in einem sinnlosen, hartnäckigen Reflex, wie ein Bein, wenn man auf den Knienerv schlägt, immer austreten wird: in die Luft, ins Leere.“

Dies sagt die Ich-Erzählerin Katt, die in die Marschen zieht, um einerseits eine in die Brüche gegangene Beziehung zu vergessen, andererseits um einem zwölfjährigen Jungen namens Zeno Gesellschaft zu leisten. Dieser Junge lebt allein, nachdem ihn seine Mutter, Leda, nach einer ebenfalls unglücklich zu Ende gegangenen Beziehung zurückgelassen hat, inmitten von Salinen, in einem Flussdelta mit seinem Haustier, einem Seidenhuhn namens Stine, und anderen Hühner zusammen. Salz spielt eine große Rolle. Salz auf der Haut. Salz in den Augen. Salz in der Luft. Salz als Quelle von Reichtum und Elend, als Geschmackgeber und Gift zugleich. Wie haben die alten Römer einen Verliebten genannt, fragt eine weitere Gesellschafterin Zenos, Maju, in die Runde:

„[…] als keiner antwortet, sagt Maju: Gesalzen, sie haben ihn gesalzen genannt, es prickelt auf der Zunge, es macht dir Durst auf das Leben, es juckt in allen deinen offenen Stellen, ist das nicht ein guter Ausdruck? Ich forme die Hände zum Trichter um den Mund und rufe zur unablässig über uns kreisenden Parrot Anafi [Drohne] hin: Wir wohnen im Salz.“

Das Szenario ist apokalyptisch, wie es nur sein kann. Alles ist aus den Fugen geraten. Die Menschen starren auf ihre Smartphones, sitzen in ihren Wohnungen und sitzen die Katastrophe aus, die in Form von Stürmen, Springfluten und Dürren über sie hereinbricht. Nichts von all dem steht im Vordergrund. Mehr das Endspiel eines Miteinander, eines Versuches, wieder eine Art eines Zuhauses zu finden, eine Heimat, eine Kommunikation, ein sinnerfülltes Sich-Verständigen inmitten einer universellen Auflösungstendenz:

„Und jeden Abend flackert an einer verlassenen Bahnstation am Sund ein einsames Licht zu zwei Menschen mit Eimern herüber, einem großen und einem kleinen, die in Ölmänteln zu einem Schuppen aus Teerpappe stapfen, es ist eines von den altmodischen Lichtern, gelb und warm, sie sind nicht so sparsam wie die weißen, bleichen, aber sie flackern beim Angehen, das schafft, so hatte es der Architekt des Bahnhofs bei der Vorstellung seins Entwurfes gesagt, ein vertrautes Gefühl bei den Bewohnern der Katen. Ein Zuhause.“

Stahlmanns Roman besitzt einen eigenen Zauber, einen sehr eigenwilligen Stil, in sich verwobener Parataxen, Katachresen, Allegorien und verstörender Analogien. Er liest sich nicht leicht, nicht gefällig. Er rückt dem Verlassen-Sein auf den Pelz, dem, was bleibt, was sich hinter der dünnen Fassade der Zivilisation abzeichnet, wohin es gehen könnte, in die ungeschützte Einöde, zwischen Abfall und Resten einer längst verschwundenen Illusion, unabhängig und erhaben zu sein und zu bleiben. Stahlmanns Roman erinnert so an Samuel Becketts „Endspiel“ – nur sind es sechs und nicht vier Figuren, nicht Clov, Hamm, Nagg und Nell, sondern Zeno, Katt, Janusz, Maju, Golden und Pella. Alles andere, die Stimmung, das Setting, sind sehr ähnlich. Es ist auch strukturell sehr ähnlich zu Valerie Fritschs „Winters Garten“ und nimmt atmosphärisch viel von Kristine Bilkaus „Nebenan“ und Stephanie von Schultes „Junge mit schwarzem Hahn“ auf. Dennoch komponiert Leona Stahlmann einen unverwechselbaren eigenen Stil, der jeden Satz in ein Leseabenteuer verwandelt, jeden Absatz mit einem Leuchten umgibt, jedes Kapitel um ein Geheimnis herumwebt, so dass das Buch von Seite zu Seite die Verlorenheit des Einzelnen in einer Gesamtbewegung und Gesamttendenz deutlicher vor Augen treten lässt, ohne die Hoffnung zu verlieren:

„Solange wir sprechen, gibt es uns noch, unsere Sprache trägt uns aus unseren Köpfen und in unsere Körper, sie ist überall dort, wo etwas fließt – ein Blut, wo etwas klopft – ein Puls, und wo es einen Strom gibt, können wir zelten, und wo es Trommeln gibt, werden wir im Kreis sitzen und uns erzählen, es darf nie keine Sprache geben.“

In Leona Stahlmanns neuestem Roman löst die Literatur ihr ganzes Versprechen ein, zu verbinden, ohne zu vergessen, zu verknüpfen, ohne zu entblößen, zu kommunizieren, ohne zu bewerten und zu theoretisieren. Mein persönliches, bisheriges, mit Abstand Buch des Jahres.

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