Maria Kjos Fonn: “Heroin Chic”

Heroin Chic

Angstlos den Abgrund vor Augen

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Maria Kjos Fonns neuester Roman „Heroin Chic“ handelt nüchtern von einer Süchtigen, Elise, die sich zur Sucht bekennt. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie weiß, worauf sie zustrebt. Sie weiß, was mit ihr geschieht und dennoch bejaht sie es. Anders als andere Romane über die Drogensucht, wie „Trainspotting“ von Irvine Welsh oder „Candy“ von Luke Davies oder „Wir Kinder vom Bahnhofzoo“ gibt es kein sozioökonomisches, psychologisches Drama. Der Roman will keine Gesellschaftskritik sein:

„In der Theorie ist es absolut möglich, einen Schuss zu setzen und zur Arbeit zu gehen, zum Liebsten nach Hause zu gehen, einen Schuss zu setzen und schlafen zu gehen. Man braucht es nicht größer zu machen, als es ist. Eine medizinierte Krankheit. Vielleicht war das Problem nicht, dass ich es brauchte, sondern dass alle um mich he­rum brauchten, dass ich es nicht brauchte.“

Ähnlich wie in Virginie Despentes „Liebes Arschloch, wo Rebecca, die Protagonistin, dem anderen Protagonisten, Oscar, von ihrer Heroinsucht berichtet und sich durch diese in ihrer Schauspielerei in keiner Weise eingeschränkt und leistungsunfähiger fühlt, besteht für Elise in „Heroin Chic“ kein wirklicher Grund, die Drogen nicht zu nehmen. Sie langweilt sich. Sie will nicht sein. Sie will kein Bewusstsein, keinen Körper haben, einfach Stimme werden.

„Im Chor waren wir eine Lunge, ein Puls. Ich hatte keine Ahnung, was mein Atem war und was der Atem der anderen, wusste nicht, wo meine Stimme endete und die der anderen begann. Der Klang stieg hoch zur Kirchendecke oder stieg von dort herab, war es etwas oder jemand von oben, wodurch der Raum mit Klang erfüllt wurde? Ich stand zwischen den anderen, ehe ich zum Solo einen Schritt vortrat.“

Die Stimme, die den Raum erfüllt, sich mit Elises Innen und dem Außen verbindet, eine Gesamtheit ergibt, verwischt die Grenzen ihres Körpers. Sie will reine Stimme werden, körperlos. Elise ist eine Figur der Extreme. Sie sucht den dünnsten Körper, die reinste Stimme, den härtesten Kick, die absolute Bewusstlosigkeit und Abhängigkeit.

„Meine Stimme war hell. Licht. Wie ich. Doch wenn ich unter der Dusche sang, schaute ich hinab auf meinen Körper, der war noch immer zu groß, die kleinen Brüste sahen gierig aus. Ich wollte, dass mein Körper wie meine Stimme wäre, ganz rein, dass er die Schwerkraft überwand. Im Spiegel begann ich, die Wirbel im Rückgrat deutlicher zu erkennen, zählte sie.“

Maria Kjos Fonns Roman „Heroin Chic” zieht diese Thematik bis zum Äußersten durch. Es gibt kein Drama, kein Elend, kein Schmerz, nur den, nicht leben zu dürfen, nicht leben zu können, wie sie will. Elise ist ein eiskalter Engel, die jeden Schmerz erträgt, die alles erleidet, die im Grunde, aufgrund ihrer Einstellung unzerstörbar ist. Zerstörbar sind die Beziehungen, die Freundschaften, die sie führt, die Familie, die sie bestiehlt, von der sie sich entfremdet, aber all dies spielt für sie keine große Rolle.

„Ein Junkie wird immer mehr zu einer Art Fötus, grau und mager und total abhängig von der dünnen Schnur, die ihn am Leben hält. Nicht dass ich Junkie gewesen wäre, natürlich. Ich war Tinker Bell, die Heroin rauchte. Silberflügel und Silberpapier, eingehüllt in Sternenstaub oder Rauch, was war schon der Unterschied.

Mit unnachgiebiger Konsequenz und punktgenauer Komposition gelingt Kjos Fonn ein Roman über Drogensucht, die das dunkle Moment in dieser aufsucht, aufhebt und literarisch gestaltet, den Verlust des Lebenswillen, die Sehnsucht als Individuum, sich selbst zu überwinden, zurück ins ozeanische Gefühl. Mit dieser Schärfe besitzt der Roman etwas von einer antiken Tragödie und von Joseph Conrads Art des Erzählens, bspw. in „Das Herz der Finsternis“, und belebt das mythische Moment, das in jeder gelungenen Erzählung irgendwo steckt.

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