Martin Walser: “Das Traumbuch”

Martin Walser: "Das Traumbuch"

Martin Walser reloaded: Bescheiden, freundlich und eigenartig leutselig.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Lüsterner alter Sack? Der alten BRD nachtrauernder Kulturrevanchist? Der Abgesang aufs eigene Großschriftstellertum? Mit anderen Worten, ohne Nobelpreis, aber mit Blasenschwäche … der alte Walser, kein bisschen weiser? Weit gefehlt. Martin Walser legt mit „Das Traumbuch – Postkarten aus dem Schlaf“ die Karten auf den Tisch. Bescheiden, selbstkritisch, vernarrt, subjektivistisch spielt er sprachlich mit den eigenen Träumen, die sich um Sex und das Kulturleben der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1950 und 1999 drehen.

„Mit vielen in einer überfüllten Vorhalle. Es kommen dann Reich-Ranicki mit Gefolge und, hinter ihm, ihn überragend eine Art Michel Friedman, der heftig mit einer Schönen scherzt, auch aus Übermut nach ihr beißt. Reich-Ranicki und Michel Friedman haben dünne Stöckchen. Ich habe auch ein solches Stöckchen. Als sie an mir vorbeikommen, um dann endlich einzuziehen ins Ziel, springe ich auf. Ich rufe, dass ich mich auch nicht von denen schlagen lasse. Sie wehren sich. Ein kurzes Gefecht mit den Stöckchen. Ich verliere irgendwie.“

Walsers neuer Text gleicht eher einem Gedichtband. Man hat es wie bei Herta Müllers „Der Beamte sagte“ mit Miniaturen zu tun. Viele Illustrationen. Seiten, die nur halb beschrieben sind. Kurze Reminiszenzen, die sich um Walser selbst drehen, ohne wirklichen Zusammenhang außer dem Kleinstädtchen Wasserburg, sein Zuhause, seine Mutter, und eben jenes Kulturleben der BRD, das es gar nicht mehr gibt. Für alle jene, die nicht wissen, wer Reich-Ranicki, was das Literarische Quartett und wer Michel Friedmann ist, oder für jene, die zwar wissen, wer Marcel Reich-Ranicki, Michel Friedmann ist, sich aber nicht mehr erinnern, warum das Kulturleben in den 1990er Jahren zur nachtspäten Stunde zitterte, den Kritiken entgegenfieberte, wenn das Literarische Quartett ausgestrahlt wurde, der wird vielleicht wenig mit den Angst- und Lustträumen Walsers anfangen können.

„In Wasserburg. Im Haus eine Art Explosion, und es reißt uns in die Höhe, Habermas und mich, wir fliegen schneller hoch als die auch schon nach oben fliegenden einzelnen Stockwerke. Ich mache Habermas auf das aufmerksam, was die hell erleuchteten Stockwerke enthalten.“

Was „Das Traumbuch“ auszeichnet, ist, was es nicht enthält: Urteile, Ratschläge, Gereiztheit oder Nostalgie. Es ist eine Spurenlese eines im Verschwinden begriffenen Selbst, ein Nachspüren dessen, was einen Autoren wie Martin Walser ein Leben lang beschäftigt hat: die anderen, der Ruhm, die Anerkennung, Günter Grass, Siegfried Unseld, Marcel Reich-Ranicki, aber vor allem die eigene Lust, das Eheleben, die physischen Begehren, Wünsche, Widersprüche, der Sex in allen seinen Facetten, der unter der bundesrepublikanischen Oberfläche schimmert und flimmert:

„Ich fühlte mich von ihr [einer zuerst sehr Schönen] nicht oder zu wenig geachtet. Ich wunderte mich sehr, dass sie dann doch in einem Schlafzimmer war. Aber mir gelang es nicht, das Licht anzumachen. Es ist fast unmöglich, einen Tag nach einer solchen Nacht zu bestehen. Es ist, als gäbe es doch nichts anderes als das. Alles andere ist Ersatz. Wenn das so ist, war dieses Leben nicht viel wert.“

Anklänge an Michel Houellebecqs „Vernichten“ sind nicht zufällig. Beide haben sich verkalkuliert. Beide geben auf. Houellebecq mit dem Beschimpfen, Walser mit dem hartgriesgrämigen Blick auf das Hohe und Große unterminierende Menschenleben. Beide lassen sich gehen, verfallen den eigenen Gelüsten, überspielen nicht mehr das, was sie zutiefst weitergetrieben hat. Sie haben es gefunden, aber als sie es fanden, entwertete sich alles, auch ihr eigenes Werk.

Martin Walsers Buch ist für all jene interessant, die sich fürs Altern interessieren, für die Resignation und das letztliche Aufgeben, das eigene Selbst weiterhin geheim zu halten. Walsers Bücher lesen sich nach diesem Buch ganz anders, neu, frischer. Es ist authentisch unverzagt, unverkrampft. Es war nicht viel dahinter, aber was dahinter gewesen ist, ist Martin selbst gewesen, Martin mit all seinen Schwächen, Wünschen, Träumen und Fantasien. Er hat spät angefangen, aber dann doch zu Friederike Mayröcker aufgeschlossen, deren Alterswerk „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ Kontinuität bezeugte, wo Walser sich eine 180°-Drehung erlaubte. Bescheiden und freundlich, mehr Lyrik als Prosa, vom Niederlegen einer Deutungshoheit, die er vielleicht nie wirklich angestrebt hat.

2 Gedanken zu „Martin Walser: “Das Traumbuch”“

  1. Habe ich sehr gerne gelesen, auch diese Rezension. Könnte mich fast dazu bringen Walser doch mal zu lesen, allein wegen des Masken fallen lassens und dem was am Ende zählt.

  2. Ich war von diesem Buch sehr überrascht. Es ist eigenartig – es geht eine Stille von ihm aus, die mich bewegt hat. Martin Walser hat etwas sehr ungeschlachtes, hier aber versöhnt es sich mit dem Versuch, über sich hinauszugelangen. Mich reizt es nun auch, nochmal ein Buch von ihm in die Hand zu nehmen. Vielleicht eines aus der mittleren Schaffensperiode.

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