Olga Tokarczuk: „Empusion“

Empusion

Ein Roman jenseits von Grenzen und Differenzen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Empusion“, der erste Roman von Olga Tokarczuk seit dem Erhalt des Literaturnobelpreises 2019, spielt in Görbersdorf, im preußischen Schlesien gelegen, im Jahr 1913. Viele Rezensionen weisen auf die klare Bezugnahme Tokarczuks auf Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ hin. Die Parallelen fallen sofort ins Auge:

Der Doktor erhob sich schwungvoll, reichte Wojnicz den Zettel mit seinen Anweisungen. Das also war es. Jetzt war er aufgenommen. Nun saß er wieder im Wartezimmer, und die unansehnliche Krankenschwester bereitete sein Behandlungsbüchlein vor sowie weitere Dokumente, die er benötigte. Er zog die gefaltete Broschüre aus der Tasche und las zu Ende, was er begonnen hatte:
»Allgemein muss gesagt werden, dass in Hinsicht der Heilung bislang Aufenthalte in Kurorten wie Meran in Tirol, im schlesischen Görbersdorf oder im nach Görbersdorfer Vorbild eingerichteten schweizerischen Davos die beste Wirkung erbringen.«

Direkt auf den ersten Seiten werden von Tokarczuk die Karten auf den Tisch gelegt. Mieczysław Wojnicz, Hans Castorp, beide Ingenieure, beide 24 Jahre alt reisen einmal nach Berghof, nahe Davos, und nach Görbersdorf, nahe Breslau, um ihre Lungenkrankheit zu kurieren. Sie lernen altgediente Herren kennen, die philosophieren und humanisieren, über Gott und die Welt parlieren. Im Gegensatz aber zu Thomas Mann, der seine Zeit, einen gewissen Zeitgeist in Worte zu fassen versuchte, zielt Tokarczuk auf Allgemeineres. Sie thematisiert mithilfe ihre Protagonisten tiefliegende Differenzen in Raum und Zeit, vor allem die Geschlechterauffassung in der abendländischen Kultur, das Verhältnis Mensch-Natur, die Ignoranz gegenüber dem Körperlichen, wenn Wojnicz beispielsweise zu Dr. Semperweiß, seinem Arzt sagt:

»Vielleicht bin ich nicht selbstsicher genug. Sie sind der Arzt, ich bin der Kranke. Ich spreche mit Ihnen in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist. Ich fühle mich hier fremd und einsam.« Wojniczens Stimme bebte. »Meine Lunge ist real, aber meine Nationalität ist es nicht mehr. Sie ist Teil einer Sphäre, zu der wahrscheinlich Herr August etwas zu sagen hätte. Meine Nationalität gehört vermutlich schon lange ins Reich der Mythologie.«

Statt aber einen Thesenroman zu verfassen wie Robert Menasses „Die Erweiterung für die europäische Einheit oder Sibylle Bergs „RCE“ und „GRM“ für die soziale Gerechtigkeit, überlässt Tokarczuk der Sprache selbst die Stellungnahme. Sie beschreibt, erzeugt, dichtet die Bergwelt. Sie beurteilt und evaluiert sie nicht. Sie lässt die Natur selbst zur Sprache kommen:

Im Tal, das sich über dem Spiegel des unterirdischen Sees erstreckte, trat Ruhe ein, und man spürte nicht nur keinen Wind, der hier ohnehin selten war, man spürte nicht einmal den leisesten Hauch. Als hielte die Welt den Atem an. Späte Insekten sitzen reglos an Pflanzenstängeln, ein Star erstarrt, den Blick auf eine bereits verflogene Bewegung gerichtet, die durch die Petersilienbüschel eines Gartens huschte. Ein Spinnennetz, zwischen Brombeerranken gewoben, hört auf zu beben, spannt sich, im Bemühen, Wellen aus dem Kosmos zu erlauschen.

In diesem Sinne hat Olga Tokarczuks Roman „Empusion“, dessen Titel ein Neologismus aus ‚Symposium‘ und ‚Empusa‘ bildet, vielmehr mit Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ gemein, auf den in der gegenwärtigen Presselandschaft gemeinhin gar nicht hingewiesen wird. ‚Empusa‘ bezeichnet Gespenster, die Hekate auf die Welt schickt, ihres Zeichens die Göttin der Totenbeschwörung und Wächterin der Tore zwischen den Welten. Die Analogie liegt auf der Hand. Wie in „Die Kinder der Toten“ rächt sich die Bergwelt an den überheblichen Begierden, Irrationalitäten, Hirngespinsten der Sanatoriumsinsassen.

Es ist ein Schauerroman, der gestalterisch Zugang zu einer Welt schafft, die über Differenzen hinweg einen Hauch des Mysteriums einfängt, das über allem Kosmischen und Wirklichen liegt. Tokarczuk erinnert so an die Möglichkeiten des Romans, weniger Meinung, mehr Beschreibung, weniger Urteil, mehr Dichtung, weniger Vorstellung, mehr Erfahrung, Erzählung und Erlebnis zu sein.  Auf diese Weise, trotz Anspielungen, Anleihen, kommunikativen Anschlüssen aller Art hat Olga Tokarczuk mit „Empusion“ etwas ganz und gar Einzigartiges geschaffen.

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