Orhan Pamuk: “Die Nächte der Pest”

Orhan Pamuk: "Die Nächte der Pest"

Literatur als monumental-historische Persiflage: Ein Anti-Roman.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gibt einen eigenwilligen Beitrag zur Pandemiedebatte. Er schreibt über eine fiktive Insel namens Minger und ihren langsamen, durch eine Pestepidemie ermöglichten, beschwerlichen Gang zur Unabhängigkeit vom osmanischen Reich. Der Roman sieht sich selbst als ein aus den Ufern getretenes Vorwort einer Autorin, die die Briefe Pakize Sultans, ihrer eigenen Urgroßmutter, herausgibt:

Wären nicht die insgesamt zwanzig Stunden gewesen, die ich (meinen Berechnungen zufolge) in jener Woche mit meiner Uroma Pakize Sultan und meinem Uropa Damat Doktor Nuri verbrachte, so hätte ich wohl kaum die Kraft aufgebracht, den als »Vorwort« gedachten Text zu dem Buch auszuarbeiten, das Sie in Händen halten.

Man kann dem Text viel Unrecht antun. Man kann über ihn herziehen. Man kann sich über die vielen orthographischen Fehler in der Übersetzung amüsieren (wie das fehlende „den“ im obigen Zitat). Man kann sogar den für seine Übersetzertätigkeit den Celan-Preis zugesprochenen Gerhard Meier mithineinziehen und den Roman „Die Nächte der Pest“ als ein vollkommen verunglücktes Machwerk aus sowohl fehlleitender Übersetzung wie verwirrend provisorischen komponierten Inhalt bezeichnen, oder all dies nicht tun und dem Roman selbst das Wort überlassen, wie er beispielsweise beschreibt, wie Plakate mit Verhaltensregeln in griechischer und türkischer Sprache in Minger aufgehängt werden:

Zwar konnten in Minger insbesondere unter den Muslimen kaum zehn Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, doch hatten der Gouverneur und der Quarantänedirektor dafür gesorgt, dass entsprechende Plakate in vielen Geschäften, Hotels und Restaurants sowie an manchen Gebäuden hingen.

Dieser Satz steht exemplarisch für die grammatikalischen, sehr ungelenken Wirrungen, die entweder durch die Übersetzung oder das Original zustande gekommen sind. Das „zwar“ lässt auf ein folgendes „dennoch“ schließen, jedoch nicht auf ein adversatives „doch“ – das „doch“ hat einfach nichts in dem Satz zu suchen, denn der Gouverneur hat, obwohl wenige Minger des Lesens und Schreibens mächtig sind, dennoch verfügt, entsprechende Plakate überall in der Stadt aufhängen zu lassen. Erschwerend kommt das für „Die Nächte in der Pest“ typische Aufzählen, das gar nichts dem Inhalt hinzufügt, also dass Plakate an Hotels, Restaurants, Geschäften und auch Gebäuden hingen, derweil Gebäude nur der Oberbegriff für all diese und wohl Wohnhäuser gemeint gewesen sind.

Stilistisch holprig, schlingernd, versucht der Roman die Geschichte Mingers, einer erfundenen Insel, im Jahre 1901 lebendig werden zu lassen. Mingers Geschichte findet in der üblichen Weltgeschichte statt. Bis auf Persönlichkeiten Mingers tauchen nur historisch verbürgte Persönlichkeiten wie Abdülhamit II. oder Wilhelm II auf. Insgesamt stellt der Untergang des osmanischen Reiches den Hintergrund, und die grassierende Pest auf der Insel Minger den Vordergrund der Handlung des Romans:

Pakize Sultan schreibt in ihren Briefen aufs Trefflichste über die Atmosphäre in der Stadt, über ihre Empfindungen, über den Hafen, den modrigen Meeresgeruch und das Licht der wenigen Laternen, die überhaupt noch brannten. Wer liest, wie die beiden [Pakize und ihr Ehemann] sich im Bett angstvoll aneinanderschmiegten und auf die Geräusche aus der Stadt und das Rauschen der Wellen horchten, ohne Schlaf zu finden, der begreift, was es bedeutet, in schlafloser Todesangst Tränen zu vergießen.

Pamuks Roman schreibt von einer Insel, die es nicht gibt, von eindrucksvollen Briefen, die man nicht zu Gesicht bekommt, von wunderschönen Fotos, die man nicht sieht. Seine Parabel entzieht sich jeder Verbindlichkeit. Weder hat man es mit einer Geschichtsschreibung noch mit einer Fabel noch mit einem Roman zu tun. Es ist ein Zwitter aus allem und berichtet von Mord und Todschlag im Plauderton. Das Pamuk-hafte Schelmische lässt sich hier und da durch die Zeilen erahnen, aber verquer und verquast, so dass sich manchmal kaum der Satz verstehen lässt, den man gelesen hat. Der Roman strotzt vor Wiederholungen, aneinander gereihten beliebigen Beschreibungen und Ausschweifungen, die nie an ihr Ziel gelangen.

Wer über die Türkei lesen möchte, bekommt mit Emine Sevgi Özdamars „Ein von Schatten begrenzter Raum“ historisch und in Sachen Authentizität mehr geboten. Wen ein Roman über die Pest interessiert, der lese lieber gleich Albert Camus‘ „Die Pest“, wo diese todbringende Krankheit in Oran wütet. Und wen es schlussendlich nach einer Fabel über Panik, Angst und Quarantäne verlangt, der greife zu José Saramagos Roman „Die Stadt der Blinden“. Wen aber nichts schreckt und Zeit genug hat, der lese Orhan Pamuks unausgegorenes Buch „Die Nächte der Pest“ und gleich danach dasselbige nur als Schmonzette und in Deutschland, nämlich Steffen Kopetzkys „Monschau“.

6 Gedanken zu „Orhan Pamuk: “Die Nächte der Pest”“

  1. Eine hochinteressante Besprechung. Ich hatte den Titel übrigens zunächst als “die Nächste Pest” gelesen, und so fiel mir der Vergleich mit unserer Coronazeit direkt zu: der diffuse Zustand, Sinnverlust ohne die Möglichkeit, irgendwo einen Faden zu finden, um zu einer irgendwie stabilen Interpretation der Personen und Ereignisse zu kommen… Dritte und vierte Bühnen…

  2. Es ist ein sehr verwirrender Text, gelinde gesagt. Er schlingert tatsächlich in eine Art kommunikative Hilflosigkeit hinein. Ich kann ihn nicht ohne Einschränkung empfehlen. Özdamar hat sehr viel mehr zu bieten. Was bei Pamuk fehlt, ist die verbindliche Erzählposition – die hat Özdamar, deren Buch mich sehr bewegt hat. Vielen Dank für den Kommentar – mir geht es heutzutage ähnlich mit den dritten und vierten Bühnen, die mich so entfremden, dass es gar keines Verfremdungseffektes mehr bedarf! Ich wünsche Sonnenschein!

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