Robert Menasse: „Die Erweiterung“

Ungeduldiges Erzählen den Nachrichtenticker entlang

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Romane haben es in der Tat schwer im Zeitalter der aufmerksamkeitserheischenden Schnellmeldungen und -medien. Ihnen fehlt es oft an Pointiertheit, Schnelligkeit, an Rasanz. Wie nun diese Forderung mit der modernen Erzählhaltung der Zeitdiagnose verbinden? Wie von einer unübersichtlichen Welt knapp und schnell übersichtlich berichten? Es hört sich wie die Quadratur des Kreises an, und ist es auch. Robert Menasse nimmt den Stier dennoch bei den Hörnern und versucht das Unmögliche:

„Darunter die Blätter zum Abreißen. Auf jedem war untereinander vermerkt: Monat, Woche, Tag, Wochentag, Geburtstage, Namenstage und ein Sinnspruch, Zitat oder Aphorismus. Schwarz auf weiß, nur die Sonntage waren rot. Er riss das Blatt vom Vortag ab. Heute war September, 39. Woche, der 23., Mittwoch, geboren war an diesem Tag Jimi Hendrix (1942), Namenstag hatten Jakob, Ute, Virgil und Modestus. Darunter stand der Satz des Tages: »Die Ungeduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. G. W. F. Hegel«“

Menasses neuester Roman „Die Erweiterung“ handelt von einer Balkankonferenz mit dem Thema EU-Südosterweiterung, die Polen veranstaltet und in die Albanien große Hoffnungen setzt, um das Ziel EU-Mitgliedschaft schnell zu erreichen. Vorangetrieben wird die Handlung durch Polens und Albaniens Spiegelhaftigkeit. Polen, bereits Mitglied der EU, beugt sich nicht den Justizreformen. Albanien, noch kein Mitglied, setzt alle Mittel in Bewegung, um alsbald eines zu sein. Träger der Handlung sind hauptsächlich Adam aus Polen nun in Brüssel und Ismail in Tirana, beide sind jeweils von ihren besten Freunden, Mateusz und der ZK, jeweils Ministerpräsidenten, enttäuscht worden. Beide haben sich Großes erhofft. Beide müssen der Realität in die Augen sehen:

„Adam und Mateusz, die blutjungen Widerstandskämpfer, noch halbe Kinder, standen an diesem Tag an einem Fenster der Anwaltskanzlei Guciński i Synowie, der anerkannten Rechtsvertreter der Solidarność, an der Ulica Marszałkowska, und blickten hinunter auf die Fahnen schwingende Menge. Neben ihnen, als Zeugen des grotesken Gesprächs zwischen Adam und Mateusz, standen Senior-Anwalt Jakub Guciński und der Soldat der Kämpfenden Solidarność Piotr Szczęsny – der kurz vor der Befreiung euphorisch, nach der Wende aber enttäuscht war, depressiv wurde und sich später selbst verbrennen sollte.“

„Die Erweiterung“ zeichnet sich durch einen kriminologischen Stil aus. Viele Cliffhanger verlocken zum schnellen, fast oberflächlichen Lesen. Ein-Wort-Sätze jagen einander. Dialoge, nur skizziert, zeigen, dass die Erzählhaltung alles zur Sprache kommen lassen will, aber deshalb, unterschiedslos, nur eine Makulatur von Erzählung, Roman, ja Literatur zustandebringt. Die Figuren doppeln sich. Ganze Sätze wiederholen sich. Wie auf einem Reißbrett entworfen hangelt sich der Plot von einer Pointe zur nächsten. Leicht lesen lässt es sich durch die Vielzahl an Handlungsfäden. Die zur Chiffren reduzierten Sätze lassen so etwas wie Langeweile gar nicht erst aufkommen.

„Kommissar Franz Starek war ein zutiefst lethargischer Mann. Man durfte aber seine Lethargie nicht mit Gemütlichkeit verwechseln, er konnte sehr ungemütlich werden. Er hatte seine unverbrüchlichen Vorstellungen von Moral, vom korrekten Leben, von Anstand, und nach zwanzig Jahren in leitender Position, die zugleich wegen seines Mauerblümchen-Daseins in der Institution eine Karriere-Sackgasse war, jene Gelassenheit, die in Wien mit »sich nix sch[…]ßen« bezeichnet wurde. Wenn ihn etwas hochgradig irritierte oder wenn er etwas für falsch hielt, dann konnte er selbst hochrangige Beamte im Bundeskriminalamt so anbrüllen, dass sie mit Verdacht auf Tinnitus in Krankenstand gingen.“

Selbstredend lässt sich ein lethargischer Mann mit cholerischen Anfällen genauso wenig vorstellen, wie jemand, der gelassen und gemütlich ist und unverbrüchliche Vorstellungen von Moral, von Anstand besitzt, aber seine Kollegen ins Krankenhaus schreit. Diese Skizzierung zeigen schon die Schwächen wie die Stärken von Robert Menasses neuestem Roman „Die Erweiterung“. Er versucht erst gar nicht eine verbindliche, überzeugende Welt zu schaffen. Dem Effekt wird alles untergeordnet. Franz Starek, bspw., kann aufgrund solcher Beschreibung keine Figur werden, da ihr alles und jedes zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu tun erlaubt ist. Langweilig wird der Roman genauso wenig wie Fahrstuhlmusik. Sie gibt dazu keinen Anlass. Menasse auch nicht. „Die Erweiterung“ gleicht in vielerlei Hinsicht Orhan Pamuks „Die Nächte der Pest“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Diese Romane kapitulieren vor ihrem eigenen Erzählgegenstand und verlieren sich in Selbstironie und Selbstbezichtigung. Ihnen geht es wie Franz, der über ein Bier mit seinem Cousin über die Vergänglichkeit räsoniert:

„Sie philosophierten über das Vergehen der Zeit, und darüber, dass sie plötzlich nicht mehr offen vor ihnen lag. Manchmal denke ich, nicht die Zeit vergeht, wir vergehen, bis wir nicht mehr hineinpassen in die Zeit, wie sie ist. Du mit deinen Sprüchen! Dann wieder Schweigen, Nippen am Bier. Am Ende eine Umarmung. Danke, hat er gesagt.“

Aber vielleicht ist es ein unterschätztes Kunststück, ein langes Buch zu schreiben, das nichts zurücklässt. Sollte dem so sein, ist es Robert Menasse als Zeitkritik durchaus gelungen.

Kommentar verfassen