Robert Musil: „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Ein Anti-Entwicklungsroman: Das Chthonische schlägt zurück.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Neben den vielen aktuellen Coming-Of-Age-Romanen lohnt sich hier und da ein Blick zurück. Als gegenwärtige wären da u.a. zu nennen: Ariane Kochs „Die Aufdrängung“, Benedict Wells „Hard Land“, Claudia Schumachers „Liebe ist gewaltig“, Eckhart Nickels „Spitzweg“ oder Stephen Kings „Später“. All diese konzentrieren sich sehr auf die emotionale Berg- und Talfahrt im Erwachsenenleben, weniger aber auf das sogenannte Intellektuelle oder Geistige. Anders hier, in Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“:

„Diesen dunklen, geheimnisvollen Weg, den [Törleß] gegangen. Wenn sie ihn fragen würden: warum hast du Basini misshandelt? – so könnte er ihnen doch nicht antworten: weil mich dabei ein Vorgang in meinem Gehirn interessierte, ein Etwas, von dem ich heute trotz allem noch wenig weiß und vor dem alles, was ich darüber denke, mir belanglos erscheint. Dieser kleine Schritt, der ihn noch von dem Endpunkte des geistigen Prozesses trennte, den er durchzumachen hatte, schreckte ihn wie ein ungeheurer Abgrund.“

Der Plot lässt sich schnell umreißen. Zwei Jugendliche quälen, missbrauchen einen vierten, und Törleß als Vierter, springt mal dem Opfer, mal den Tätern unentschieden und mal aus geistiger, begehrlicher, moralischer oder zufälliger Hinsicht zur Seite. Die Struktur speist sich aus dem Ungenauen, das sich in Törleß abspielt, der kein Held gewöhnlicher Gestalt ist. In ihm verkörpert sich vielmehr ein gewisses zivilisatorisches Erlahmen, eine vorweggenommene Gestalt dessen, was als gescheiterte Aufklärung knapp zwanzig Jahres später Oswald Spengler in „Der Untergang des Abendlandes“ umreißen sollte. Auf den Text bezogen, Törleß vermag nicht mit intellektuellen Mitteln sein Begehren, seine Leidenschaft, seine Lust zu durchschreiten und verfällt er deshalb umso barbarischer und verantwortungsloser:

„Und nun begann Törleß doch noch zu schreiben, – aber hastig und ohne mehr auf die Form zu achten. »Ich fühle«, notierte er, »etwas in mir und weiß nicht recht, was es ist.« Rasch strich er aber die Zeile wieder durch und schrieb an ihrer Stelle: »Ich muss krank sein, – wahnsinnig!« Hier überlief ihn ein Schauer, denn dieses Wort empfindet sich angenehm pathetisch. »Wahnsinnig, – oder was ist es sonst, dass mich Dinge befremden, die den anderen alltäglich erscheinen? Dass mich dieses Befremden quält? Dass mir dieses Befremden unzüchtige Gefühle« – er wählte absichtlich dieses Wort voll biblischer Salbung, weil es ihn dunkler und voller dünkte – »erregt? «“

Dieser Coming-of-Age-Roman beschreibt, wie kein anderer, das Nicht-Coming-of-Age, denn Törleß verbleibt unentschieden, pendelnd, unsicher inmitten der Dinge, ohne Verantwortung und Selbstbewusstsein zu erlangen. Das Kalte und Leere, das sich in den Versuchen von Törleß widerspiegeln, steigern im Text sich zum Gespenstigen, zu einer Art unheimlichem Nachvollzugs eines Scheitern, eines Selbst, das vor sich zurückschreckt und letztlich in sich zusammenfällt. Das Grauen erinnert an Edgar Allan Poes Der Fall des Hauses Usher oder Das verräterische Herz. In Musils Debütroman vereist sich das Denken zu einer psychopathologischen Pattsituation, aus dem Törleß nicht mehr herausfindet:

„So wie ich [Törleß] fühle, dass ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, dass etwas in mir beim Anblicke der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen. Es ist etwas Dunkles in mir, unter allen Gedanken, das ich mit den Gedanken nicht ausmessen kann, ein Leben, das sich nicht in Worten ausdrückt und das doch mein Leben ist ….“

Musil beschreibt das Heranwachsen eines unempfindlichen Individuums, das sich nur für die eigenen Sensationen, für den eigenen Thrill interessiert, und bereitet den Weg für die Darstellung von Figuren wie Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho“ oder wie in Truman Capotes „Kaltblütig“. Auf seine Weise steht Musils Entwicklungsroman sehr eigenständig dar, eine vorweggenommene Ausdeutung dessen, was später die Dialektik der Aufklärung genannt wird und begrifflich das Scheitern der Aufklärung selbst zementiert. Das Chthonische hallt nach und schlägt in der Persona Törleß, ohne ein Wässerchen zu trüben, ungemindert zurück.

Kommentar verfassen