Sibylle Berg: “RCE”

Sibylle Berg: "RCE"
Ratlos durch Europa – ein dadaistisches Polit-Potpourri  

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Nimmt man das pinkgebundene Buch zur Hand, so zählt Sibylle Bergs Konvolut mit Anhang knapp 700 Seiten und wiegt erstaunlicherweise auch noch 700 Gramm. Zudem wurde der Text in 35 unterschiedlich lange Abschnitte unterteilt, die zu einem bestimmten Ereignis hinführen. Das Ereignis liegt am Anfang des Buches 2 Jahre und 7 Monate in der Zukunft. Am Ende des Buches befindet es sich im vollen Gange. Bis dahin rechnet Berg wortgewandt mit der westlichen Kultur ab.

„Da tobten sie [die Körper], töteten einander, schnitten sich Babys aus dem Bauch, betrogen und bestahlen sich, pissten auf die Straßen, durch die sie grölend liefen, hockten in ihren mit Nippes vollgestopften Wohnlöchern. Sie schissen bei offener Klotür und schlugen einander, schlugen ihre Kinder, schlugen sich, und sie hatten so wenig Sinn für Kunst und das Schöne.“

Sibylle Berg aus: “RCE”

Berg lässt kein gutes Haar an der Gegenwart. Gleich einem barocken Gemälde à la Hieronymus Bosch vom Höllenpfuhl zeichnet sie eine Welt voller Fehler, Ungerechtigkeit, Hässlichkeit, an deren Zustand vor allem die Finanzbranche Schuld trägt. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund und hält nicht hinter dem Berg. Jeder Abschnitt ist unterteilt in kleinere Kapitel, in denen jeweils aus der Sicht einer steckbriefartig kurz vorgestellten Figur vom Geschehen erzählt wird:

„Hans-Ulrich, Gesundheitsstatus: Bluthochdruck, Religion: alter Mann, Hobbys: Waffen, Sex: Waffen, Liebstes Reiseland: USA, der in Luxemburg eine Stunde harte Übungen mit seinem Personal Trainer hinter sich hatte. Er war sechzig und sah aus wie neunundfünfzig. Wie jeden Tag bedauerte er, dass der kurze Weg ins Büro den Einsatz des Firmenhelikopters nicht rechtfertigte.“

Berg bedient sich einer hybriden Erzählform. Sie erzählt nicht rein auktorial und auch nicht rein personal. Sie mikromanagt ihren Text nach Belieben, unterbricht, kommentiert, springt und hält sich nicht lange mit Details auf. Es geht ihr ums große Ganze, nie ums mikrologische Verständnis einzelner Handlungsabfolge. Im großen Abwasch geht es mit allen Mittel der Kunst dem System an den Kragen. Hierbei mischen sich Zeiten, Beobachtungsebenen zu einer lose gekoppelten Form, dass man nicht mehr zwischen Druckfehlern, Anschlusslogiken und gewollten Stilmitteln zu unterscheiden vermag, wie im Textabschnitt „Immer noch 6 Monate vor dem Ereignis“, wenn Berg schreibt:

„Die Eliteeinheit AAD-10, die Marines des kleinen Landes, saß in einem Bunker und spielte Karten. Sie warteten seit Jahrzehnten auf einen Einsatz. Die Eliteeinheit AAD-10, die Marines des kleinen Landes, saß in einem Bunker und spielte Karten. Sie warteten seit Jahrzehnten auf einen Einsatz.“

Ob die Dopplung gewollt oder schlicht ein Copy&Paste-Fehler, also ein Fehler im System ist, lässt sich nicht erraten bei einem Text, der sich alle Freiheiten des Schreibens herausnimmt, ohne auf jedwede innere Konsistenz oder Handlungsbögen zu achten. Denn im Grunde gibt es keinen Plot. 5 Nerds retten via Cyber-Hacking die Menschheit. Ihre Namen lauten Ben, Kemal, Maggy, Pavel (Pjotr) und Rachel. Für sich genommen, im multi-perspektivischen Spektakel besitzt die Idee das Potential zu einem Technologie-Thriller à la Dirk Rossmann und seiner Oktopus-Saga rundum Quantencomputer und künstliche Intelligenz. Nur spielen Plot, Figuren und Glaubwürdigkeit bei Berg keine Rolle. Mit ihr landet man direkt in der Ära der Postnarration. Dass etwas nämlich nicht stimmt, liegt auf der Hand, und so lässt Sibylle Berg Franck Ribéry, Zinédine Zidane und Catherine Deneuve Folgendes in einer öffentlichen Ansprache während des Ereignisses sagen:

„Jetzt ist unser Moment des friedlichen Wechsels gekommen. Wir werden die Krisen beenden. Versuchen den Kollaps der Natur zu stoppen, wir werden gemeinsam herausfinden, ob der Kapitalismus wirklich alternativlos ist. Oder ob es etwas Neues geben kann. Ein Europa, ein Land, Städte, die Platz für jeden haben, mit Mieten, die wir zahlen können, Luft, die man atmen kann, mit Arbeit, die nicht Ausbeutung ist, und einer Zukunft, die nicht nur Wachstum für wenige bedeutet, sondern Wohlstand und Entspannung für alle.“

Wem das wie ein politisches Programm vorkommt, liegt vielleicht nicht so falsch. Dadaistisch kondensiert Berg aktuelle Diskurse zu einem ellenlangen Pamphlet, in welchem kaum etwas geschieht, aber vieles angeklagt wird. Es handelt sich im Grunde um einen Performance-Akt, eine Art Sprechstück, verwandt zu Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“. Der Text steht für sich als Injektion, Einwurf und Wortmeldung zum Unausstehbaren, Nervenden und Allseits-Bedrohenden, d.h. Berg schreibt sich beherzt den Frust von der Seele, und dies ohne Allüren. Weder musikalisiert sie die Rhapsodie wie bspw. Thomas Bernhard in „Der Untergeher“, noch gibt sie sich Mühe mit detaillierter Abscheu wie Elfriede Jelinek in „Gier“ oder „Kinder der Toten“, noch zelebriert sie ihre Wut wie Valerie Solanas in ihrem SCUM-Manifest. Bergs neuer Roman „RCE“ dümpelt lediglich forminvariant vor sich hin und endet in einer unverbindlichen Zukunftsprognose, die manche erhoffen, andere befürchten mögen, über die sich manche lustig machen, andere aber als Alternative anpreisen. Jedem/jeder also das Seine/Ihre. Das war’s aber auch schon.

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