Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn

Stefanie vor Schulte - Junge mit schwarzem Hahn

Der Grausamkeit trotzend – ein Märchen von schauriger Schönheit.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Selten tauchen Romane in der Gegenwart auf, die vom ersten Wort an, Eigensinn und Eigengesetzlichkeit beanspruchen. Sie wehren sich des Vergleichs und sprengen eine eigenartige Form von Zeitlichkeit. Stefanie vor Schultes Roman „Junge mit schwarzem Hahn“ gehört zu diesen Werken. Äußerlich eine Art Märchen, inhaltlich eine Fabel auf Widerständigkeit, rhythmisch eine Parabel aufs Erzählen, und doch sonderbar romantisch in seiner poetischen Vermittlung des Hässlichen mit dem Schönen.

„Manchmal hockt der Hahn auf der Kurbel des Schleifsteins, der mit den Jahren ins Erdreich gesunken und jetzt mit Flechten überwuchert, vom Frost unverrückbar festgebacken ist. An dem hat der Vater sein Beil erst geschärft und alle bis auf den Jungen erschlagen. Da hat es vielleicht angefangen.“

Von Gewissheit, determinierter Klarheit, möchte der Roman nichts wissen. Es hat nur „vielleicht“ angefangen mit dem Mord- und Todschlag des Vaters, der von seinem Versuch, sich gegen die Tyrannei der Fürstin aufzulehnen, hoffnungslos zur Familie zurückkehrte, nur um alle bis auf Martin, den Protagonisten und Jungen mit dem schwarzen Hahn, blutrünstig zu ermorden. Anfang und Ende bleiben in einer Welt unklar, in welcher Schuld und Verhängnis allgegenwärtig sind, und zudem noch Krieg herrscht, möglicherweise der Dreißigjährige, aber mit Sicherheit eine Welt im Zerfall.

„Frühling enthält bereits den ganzen Tod des scheidenden Jahres. Überall sieht er [Martin] Vorboten. Die zertretenen Raupen. Blaugewirkt an den Rändern, mit feinen Borsten, unter denen das Innere hervorquillt. Die Spinnennester, aus denen Tausende von winzigen Abkömmlingen über die trockenen Blätter des Vorjahres huschen. Blut in seinem eigenen Urin. Einmal finden sie einen toten Fuchs, dem die Fliegen aus der Nase kriechen und die Maden in der Bauchhöhle wimmeln.“

In „Junge mit schwarzem Hahn“ mischen sich alle Elemente herkömmlicher Tragik. Eine Schauergeschichte jagt die andere. Martin durchläuft und durchlebt eine Welt, in der Mord und Totschlag herrschen, in der die Menschen hungern, darben, von grässlichen Begierden getrieben, sich gegenseitig das Leben in seiner Erbärmlichkeit nur noch weiter zum Höllenpfuhl werden lassen.

„Martin kriecht vorsichtig näher und lugt über den Rand der flachen Senke, erblickt ein Lagerfeuer, das seinen Abglanz auf eine Gruppe Menschen wirft. Frauen, Männer. Umgeben von Kleiderbündeln. Menschenbündeln. Kisten. Fässern. Unrat. Sie fuhrwerken geschäftig und sinnlos, besoffen und lachend in dem Diebesgut herum, das sie angehäuft haben, untereinander aufteilen, darauf pissen, alles Würdevolle vergessen. Fleischbrocken werden über dem Feuer geröstet. Fett zischt in der Glut. Es stinkt entsetzlich.“

Martin selbst bleibt von all dem auf wundersamer Weise verschont. Sein Geheimnis ist keines. Es liegt offen zutage. Es ist sein schwarzer Hahn, der ihn seit frühester Kindheit beschützt. Stefanie vor Schulte beweist mit „Junge mit schwarzem Hahn“ Mut zur Hässlichkeit als Prüfstein für ein Schreiben, das von der Idee des Sanften nicht Abstand nehmen will. Ihr Erstlingswerk wendet sich nicht von dem Grauem ab. Sie zieht sich mit ihm nicht in den Elfenbeinturm zurück. Sie exponiert sich voll und ganz und lässt die Leser und Leserinnen unbeschadet und um einen Batzen Hoffnung reicher zurück. Unbedingt lesenswert.

5 Gedanken zu „Stefanie vor Schulte – Junge mit schwarzem Hahn“

  1. Was ich an deinen Rezensionen so schätze: dieses in Beziehung setzen-zu Kant. zu Adorno zu Jelinek. Das einordnen in einen Gesamtzusammenhang, der oft mein Verständnis noch übersteigt, nichtdestsotrotz ungemein spannend ist.
    Gekonnt ist gekonnt.

    1. Vielen lieben Dank!! Mein Versuch besteht tatsächlich gerade in der Einbettung des Gelesenen, so dass man den Reichtum all jener Stimmen der vielen Bücher in Erinnerung behält. Ich tue es auch, um meine eigenen Lektüren wieder hervorzukramen, die Vernetzungen zu bewerkstelligen, zu verstehen, wie und was mich an den neuen Texten interessiert und begeistert. Die nächsten Schritte werden sein, die Verlinkungen über eigene Seiten zu führen, wo Zitate und neue Verbindungen erschlossen werden können, so dass ein Literaturnetz entsteht, aus dem man (und auch ich) stets neue Inspirationen für Lektüren und Relektüren findet.

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