Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Thomas Kunst: „Zandschower Klinken“

Ein musikalischer Thomas Bernhard aus der ostdeutschen Provinz. Literarischer Hochgenuss.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…


Das Leben auf dem Lande wird seit kurzem, und vielleicht auch wegen der Home-Office-Covid-19 Situation, idealisiert. Viele Gegenwartsromane greifen auf diesen Topos zurück. „Zandschower Klinken“ zerschneidet diesen Romantismus jedoch gekonnt und mit sprachlicher Hochgeschwindigkeitsrhythmik. Statt eine Großstädtler-Brille aufzuziehen und ein imaginäres Zurück-zur-Natur zu feiern, artikuliert Thomas Kunst auf hochversierte Art und Weise die ländliche Tristesse und die Gegenmaßnahmen, die die Individuen inszenieren, um nicht vor Langeweile und Isolation einzugehen.

„Ich sage in der sich allmählich ausbreitenden Dämmerung das Alphabet auf. Wenn beim Aussprechen der Buchstaben M, P und Y jeweils links oder rechts ein Baum am Straßenrand steht, komme ich in dieser Nacht noch unzählige Kilometer weiter. Abweichungen von zwei bis fünf Fuß sind erlaubt. Ich will ja nicht kleinlich sein. Fast die gleiche Anzahl Bäume zu beiden Seiten der Fahrerkabine. Landstraße, Autobahn, Landstraße, aber in umgekehrter Reihenfolge. Ich glaube, ich mache das jetzt jedes Wochenende. Die Welt ist das Größte auf der Erde.“

„Zandschower Klinken“ handelt von Mut, von der Fröhlichkeit der Wiederholung des Immergleichen, von steten Versuchen aufzustehen, weiterzumachen, alles neu zu erfinden. Ein fröhlicher lyrischer, musikalisch-grammatikalisch verschwobelter Tanz um die eigenen Möglichkeitswelten inszeniert eine Struktur, an der man sich festhalten kann. Die Wiederholung selbst ist das Stillstellen der Zeit. Das Atemholen. Die stete Wiederholung mit kleiner Paraphrase schärft den Blick für das Wenige, das abweicht. Sie übt Aufmerksamkeit und Fröhlichkeit ein, das Sehen von Wundern im Alltäglichen, vom Zauber im Eintönigen – denn, so praktiziert es Thomas Kunst in seinem Roman, Heraklit hat recht. Man steigt nie in denselben Fluss ein zweites Mal. Und so liest sich kein Satz wie beim ersten Mal. Etwas verändert sich, und was sich verändert ist der eigene Erwartungs- und Verständnis- und Antizipationshorizont.

„Vierte Minute. Unveränderte Bäume. Vierte Minute. Wenn ich nicht atme, verändere ich die Luftströme direkt über mir nicht. Vierte Minute. Ich will für immer in einem gestrandeten Frachter leben. Vierte Minute. Ich will die Luken im Auge behalten. Vierte Minute. Ich liege am Strand in der Nähe der Bäume. Vierte oder fünfte Minute. Vierte Minute. Die Bäume sind in der vierten Minute so ähnlich wie in der zweiten Minute. Dritte Minute. Ich trinke nie mehr. Vierte Minute. Ich werde die Uhr an meinem Handgelenk nach meiner Rückkehr auf das Boot stundenlang ins Meer halten.“

Kunst umgarnt den Leser mit kleinen Häppchen. Es ist nicht viel, was erzählt wird, aber das Wenige, das sich Wiederholende, erlaubt Tiefendimensionen zu erfahren, die umso deutlicher die Vor- und Nachteile des provinziellen, isolierten Landlebens vor dem inneren Auge auferstehen lassen. In Oppositionsschleifen, rückwärtsrollenden Konjunktionen täuschen die Orbitalgeschwindigkeiten der Paraphrasen Stillstand vor, der gar nicht möglich ist, weder im Lesen noch im Leben noch im Schreiben. Alles geht vorwärts, nur anders, und manchmal in Thomas Bernhardscher Manier in die entgegengesetzte Richtung „vierte oder fünfte Minute“ und dann wieder doch nur „die vierte“.

Der Witz von Thomas Kunst und seine eigenwillige Schreibweise mag manchen vor den Kopf stoßen. Für mich war das Lesen von „Zandschower Klinken“ ein Hochgenuss. „Klinken“, die an den Klinkenstecker von elektrischen Gitarren erinnert, an Kontakte, Kontaktersuche und Kontaktanzeigen, die es zuhauf in dem Roman zu lesen gibt, und auch „Klinken“ wie Türklinken, die etwas zu öffnen erlauben, die Verschlossenes öffnen, ja zu öffnen erst ermöglichen.

Der Roman ist in diesem Sinne ein Schlüsselroman für die Gegenwart, und zwar ein ganz besonderer. Möglicherweise nämlich tummelt sich in den abgeschotteten Inseln und Flecken und isolierten Fleckchen des Landes das Leben und die Menschen auf ganz andere Weise als es sich aus der Großstadt Entflohene erträumen oder erschreiben können. Als abstrakte Beispiele seien hier genannt: „Der Brand“ von Daniela Krien, wo ein Urlaub auf dem Lande einem Ehepaar erlaubt, zu sich zurückzufinden; „Unter Menschen“ von Juli Zehs, in welchem die Protagonistin einer scheinbaren Authentizität in der Brandenburgischen Einöde auf dem Leim geht; Eva Menasses „Dunkelblum“, wo unüberwundene Gespenster und Schicksalsschläge im Niemandsland zwischen Ungarn und Österreich herrschen; oder Christoph Heins „Guldenberg“, wo das Dorfleben ein Stadtleben nur in Klein basisdemokratische Kommunikationsprobleme generiert.

Ich empfehle Thomas Kunst „Zandschower Klinken“ rückhaltlos, und empfehle als Weiterlektüre Thomas Bernhards „Der Untergeher“ und „Der Keller. Eine Entziehung“. Viel Spaß.

3 Gedanken zu „Thomas Kunst: „Zandschower Klinken““

  1. “Wir können nichts für unsere Begabung, ein freies Leben zu führen. Wir bleiben jetzt hier.”

    “Er fällt jetzt auf mit seinem Fahrstil, denn Claasen hat sich vorgenommen, sein Auto so vorsichtig, langsam und gleichmäßig zu bewegen, dass das Halsband so lange wie möglich auf dem Armaturenbrett liegen bleibt. An der Stelle, an der es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen.”

    “Sehen von Einzigartigem im Alltäglichen, vom Zauber im Eintönigen – denn, so praktiziert es Thomas Kunst in seinem Roman, Heraklit hat recht: Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss, wie auch.”

    Eine so spannende Rezension. Ich will es sofort lesen. Die oben zitierten Textstellen finde ich einfach grandios. Die Menschen, so empfinde ich es wenn ich auf Besuch bin in der Stadt, sind in der Stadt nicht weniger einsam als auf dem land. Das land macht es schwerer sich in der Breite der Erfahrung zu verlieren.
    Ein neues Leben beginnen- an einem zufälligen Punkt. Das hat mich bei Max Frischs Gantenbein fasziniert. Ich schweife ab.
    Das würde ich gern verfilmt sehen, dieses Montags steigen alle in Waggon, wer übrig bleibt rüttelt.
    Farbe hineinbringen, Mikro statt Makrokosmos.
    hat mich sehr neugierig gemacht.
    Danke für diese wunderbare Buchbesprechung

    1. Ja, ich sehe das wie du. Dieses Buch habe ich schon im Oktober gelesen. Aber es hing mir noch nach, dass ich es vorstelle, und dann habe ich zwei eher enttäuschte Besprechungen beendet und dachte, ich brauche etwas Fröhliches. Ich habe mir zur Feier das Buch gleich nochmals gekauft, weil es toll ist, dass es Bücher wie dieses gibt. Ein wirkliches Frühlingswerk. Max Frischs “Gantenbein”, tolle Idee, dies wieder zu lesen. Sein “Mensch im Holozän” hat sehr starke Bezüge zu “Zandschower Klinken”, auch diese Parallele hätte gezogen werden können. Jetzt, wo ich nachdenke, passt das eigentlich noch besser als Majakowski, obwohl dessen optimistisches Singen und Trällern mir auch in den Kram passen. Ich versuche immer, mich auf vier Word-Seiten zu beschränken, aber zu diesem Buch hätte man endlos viel schreiben können, vor allem eben über das Farbe hineinbringen, über diese sehr konstruktive Art, Dinge so zu beschreiben, dass man Lust hat, mitzumachen 🙂 Fröhlichen Wochenanfang wünsche ich dir!

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