Toril Brekke: „Ein rostiger Klang von Freiheit“

Rostige statt rosige Zeiten. Ein trauriger Roman übers Erwachsenwerden.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Aufwachsen ist nicht leicht. Weder in den 1960er noch zu anderen Zeiten. Aufwachsen beinhaltet oft, oder fast immer, irgendeine Form von Enttäuschung, Desillusionierung. Oft gehen geliebte Selbst- und Fremdbilder zu Bruch. Familienmitglieder entfremden sich voneinander. Weihnachtsfeste, die früher zu den Höhepunkten des Jahres gehörten, finden kaum noch ohne Streit statt. Toril Brekke, eine norwegische Autorin und Kinder- und Jugendbuchschriftstellerin, erzählt in ihrem Roman „Ein rostiger Klang von Freiheit“ von einstürzenden Traumwelten einer ohnehin schon im Zusammenbruch befindlichen Kinder- und Jugendwelt:

„Ich glaubte, dass er verschwunden war, unterwegs zu einem Hafen, und wir hatten keine Ahnung, wie das Schiff hieß oder für welche Reederei es fuhr.
Stimmt irgendwas nicht, Aggi? Fragte Isak.
Ich konnte nichts sagen, schüttelte nur den Kopf.
Du wirkst so nachdenklich, sagte der Klavierstimmer.
Ich schaute ihn an, unsere kleine Familie zerfiel, und er hatte keine Ahnung davon.“

Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Familie der gerade erwachsen gewordenen Agathe, die bei ihrem Stiefvater Isak, zusammen mit ihrem jüngeren Halbbruder Morten in Oslo wohnt und von Nachricht von ihrer Mutter Veronica erhalten. Die Pianistin lebt in Dänemark ein freies, ungebundenes Leben fernab von ihrer Familie in Musikerkreisen. Dort hat sie sich aber von ihrem jetzigen Freund, dem Bassisten Lennart getrennt und ist nun spurlos verschwunden. Agathe und Morten ziehen los, ihre Mutter zu suchen, fahren nach Kopenhagen und erleben dort einen Schock:

„Mama!, rief Morten.
Sie kniff die Augen zusammen und starrte verwirrt in unsere Richtung. Wusste sie noch nicht, dass wir da waren? Hatte Lennart ihr das noch nicht erzählen können? Hatte sie mir das Glas Rotwein gar nicht spendiert? Die nächste Sekunde war eine Ewigkeitssekunde, eine, die dauert und dauert, die in unserer Erinnerung später in Zeitlupe abläuft, die aber in Wirklichkeit mit einem Wimpernzucken vorüber ist.“

Der Roman „Ein rostiger Klang von Freiheit“ liest sich schnell und flüssig. Die Ich-Erzählerin Agathe versucht, so gut, wie sie es vermag, Ordnung in die Geschehnisse hineinzubringen, schafft dies aber nicht immer. Viele Personennamen taumeln ineinander. Zeitsprünge in der Retrospektive bleiben unklar; klar aber bleibt der nüchterne Stil des Coming-of-Age-Romanes, der viel von einem Märchen von Hans Christian Andersen hat, ohne jedoch dessen Melancholie und Sentimentalität nachzueifern. Brekke bleibt trocken und distanziert. Beide zeichnen jedoch mit geraden und klaren Worten Personenzüge und spüren der Verletzbarkeit des seidenen Gewebes des Zwischenmenschlichen nach. Agathe und Morten befinden sich im freien Fall zwischen Lügen, Geheimnissen, Schmerz, Verfehlungen, Misstrauen und Wehmut, bis am Ende nicht mehr viel übrigbleibt, eben nur noch die Freiheit, die aber die anderen, nicht Agathe haben:

„Du musst herkommen und mitmachen, rief Madeleine am Telefon. Es ist eine einfache unvorstellbare Solidarität! Wir marschieren Hand in Hand, es ist ein Strom aus Menschen, die alle Freunde sind.
Aber ich war ja keine Studentin.
Wir rufen Parolen und singen, fuhr Madeleine euphorisch fort. Es ist wie der Klang der Freiheit!“

Agathe bleibt am Ende noch die Musik, die Kunst, sich auf ihr eigenes Leben zu konzentrieren statt sich auf andere zu verlassen. Ein nüchterner, karger, sehr ungeschminkter Roman darüber, was passiert, wenn die Eltern sich kindischer verhalten als die Kinder und diesen noch den letzten Rest an Sicherheit und Orientierung nehmen. Weniger warmherzig als Stephen Kings „Später“ und weniger lebensfroh als Claudia Durastantis „Die Fremde“, aber um einiges deutlicher und weniger geschönt als Benedict Wells „Hard land“. Empfehlenswert ob seiner Kargheit und Geradlinigkeit. Ein harter, existenzialistischer Roman, der sich wie eine Zeugenaussage liest und es wohl auch ist.

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