Uwe Tellkamp: “Der Schlaf in den Uhren”

Rezension von Uwe Tellkamp: "Der Schlaf in den Uhren"
Ermüdender magischer Realismus

Ausführlicher und detaillierter vielleicht hier: https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Uwe Tellkamp ist bewusst oder unbewusst in die Fußstapfen von Günther Grass getreten. Mit „Der Turm“ legte er eine glasklare Fortschreibung und Fortsetzung von „Ein weites Feld“ vor. Als Chronist der deutschen Nachkriegsgeschichte arbeitete er sich bislang an den disparaten Welten und sozialen Prozessen ab wie seiner Zeit Grass, der ebenfalls zu allen Themen und aktuellen Problemzonen einen Roman verfasst hat. Tellkamp geht mit „Der Schlaf in den Uhren“ nun neue Wege, die die engen narrativen Bahnen eines an Theodor Fontane angelegten narrativen Realismus weit hinter sich lassen. In seinem Roman geht es nämlich nicht um die Bundesrepublik Deutschland, noch um die Deutsche Demokratische Republik, sondern um ein chimärisches Spiegelbild namens Treva, Argo und Brenta, in welchem »das Mammut«, »General«, »das Fossil«, »Außen Eins« und »Außen Zwei« der trevischen Nachrichtenagentur und die Tausendundeinenacht-Abteilung auf der »Kohleninsel« samt der »Dunkelgrauen« und »Hellgrauen Eminenz« ihr Unwesen treiben:

„Die Kohleninsel ein Labyrinth zu nennen wäre untertrieben, es gibt Labyrinthe auf mehreren vertikalen und horizontalen Ebenen, die den Archipelagus durchziehen, wie wir unser Gebiet vorzugsweise nennen. Der einfache und Staatsname erscheint uns unpassend und allzu oberflächlich.“

Uwe Tellkamp aus: “Der Schlaf in den Uhren”

Im Sinne des magischen Realismus bedient sich Tellkamp hyperbolischen Metaphern und Chiffren, um der Darstellung der Gegenwart näherzukommen. Wie Ernesto Sabato oder Gabriel García Márquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ verwischt er die Grenzen zwischen Chronik, Reportage und Phantastik, um die vieldeutigen Ebenen aktueller Bezüge in holistischer Mehrdimensionalität darstellen zu können. Das Ergebnis erhält Kafkaeske Strukturen, unheimliche Sequenzen, und auseinanderlaufende und wieder zu sich zurückfindende Selbstbezüge, die der erinnernde Ich-Erzähler nachgeht, um sich wieder einen Überblick zu verschaffen, in einer komplex gewordenen, chaotisch werdenden Welt zurechtzufinden.

„Hinab stieg ich, er, mein Schatten, stieg hinab. Mein Interesse an den Geisterbahnhöfen war durch eine Studie Rohdes geweckt worden, sie hatte einen Zusammenhang zwischen diesen Bahnhöfen und der Zehnminutenuhr hergestellt, in einer Nebenbemerkung, aber doch so deutlich, dass ich wach geworden war. Die Zehnminutenuhr interessierte mich, sie hatte von meinen Vorstellungen förmlich Besitz ergriffen, in meinen Überlegungen hörte ich sie manchmal, die Manöver ihrer Mechanik […]“

„Der Schlaf in den Uhren“ liest sich schwer. Viele Namen und Pronomen gehen ineinander über, bspw. gibt es zwei Annes, und manchmal besitzt eine Figur nicht nur den Geburtsnamen, sondern auch einen Codenamen, einen Rufnamen und Kosenamen, so dass es nur konzentriertem Lesen möglich ist, den Überblick zwischen den handelnden, beschriebenen Figuren in den mindestens fünf verschiedenen Zeitebenen zu behalten (Erzählzeit Meno Rohdes, Kindheit und Jugend Fabian Hoffmanns, Zeit vor, während und nach der Arbeit für die Tausendundeinenacht-Abteilung). Erschwerend kommt hinzu, dass die Zeiten nur äußerst sparsam angezeigt werden und aus dem Handlungszusammenhang erschlossen werden müssen. Dazwischen schieben sich surrealistische Sprachspiele, die an Thomas Bernhard und andere avantgardistische Sprachexperimente erinnern:

„Der Handschuh: Außen ist er rot, eine kräftige Farbe, Zinnober, Sie wenden ihn, wir sehen nun ein schwaches, poröses Rot, noch ist erkennbar, was gemeint gewesen sein könnte, doch haben wir noch die Form, es ist immer noch ein Handschuh, der gleiche, vielleicht sogar derselbe, formal betrachtet.“

Uwe Tellkamps „Der Schlaf in den Uhren“ ist ein außergewöhnlicher Roman. Streng permutiert er ein quasi-, also halberfundenes Universum gegen eine chronologisch erfasste Bestandswirklichkeit. Er unterläuft auf diesem Wege eingefahrene Beschreibungsmuster und Aufschreibsysteme. Deutliche Parallelen lassen sich zu Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ und Claude Simon „Jardin des Plantes“ finden, die dem Gedächtnis freie Bahn zur Wucherung lassen. Wer jedoch wenig Sinn für formalästhetische Experimente hat, wird mit dem Text über weite Strecken keinen Spaß haben. Mir war er schlicht zu anstrengend.

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4 Gedanken zu „Uwe Tellkamp: “Der Schlaf in den Uhren”“

  1. Deine Rezension, zu diesem Werk werde ich lesen, wenn auch ich das Buch bewältigt habe.. In mir verfestigt sich der Eindruck, dass die Grundkonzeption das Problem ist. Das formale, welches er ja wirklich bewusst nicht linear wollte.
    Ich habe leider im allgemeinen keine Stärke im Lesen von Literatur, die der Zeit Rechnung trägt und zersplittert wie in einem Kaleidoskop erzählt.
    Nimmt man “Die Schwebeban”, ich lege sie dir näher ans Herz an als den Turm, wird aber sichtbar (jedenfalls für mich was Tellkamp erschaffen kann. mit “Die Uhr” geht es mir ähnlich. Er verlangsamt die Zeit, hält an, wendet sich zurück. Das ist kein forsch voranschreitender idealistischer (zunächst ) Bräunig oder eine Franziska Linkerhand. Er bewahrt, will nicht verändern, allerhöchstens im Erhalt, aber es setzt der Schnelligkeit und der Leichtlebigkeit etwas wunderbares entgegen. Ähnlich wie handke eigentlich oder Proust.

    1. Das nehme ich gerne als Tipp an. Ich werde mir “Die Schwebebahn” ansehen. Ich behaupte auch wirklich nicht, einen besonders tiefen Einblick in Tellkamps Schreiben zu besitzen. Mein Eindruck festigte sich während der Lektüre, dass er sich nicht an mich wendet. Ich bin kein Adressat dieser Art von Literatur, und ich möchte auch deshalb mein Urteil unter diesem Licht gesehen wissen – im Grunde, und ich dachte daran wirklich, wollte/sollte ich mich einfach enthalten. Nun habe ich dennoch eine Form von Meinung zu etwas abgegeben, das mich nichts angeht. Es gibt nun einmal Formen der Literatur, denen ich nur mit Unverständnis begegne. Als misslungen kann ich deshalb nur mein kommunikatives Erlebnis mit dem Buch selbst sehen, nicht das Buch. Etwas Derartiges würde ich mir nicht anmaßen wollen. Das Buch steht für sich und bereichert auf seine Art die Welt. Ich verstehe Tellkamps Anleihen (Der goldene Topf, die Vigilien, Thomas Manns Zauberberg, Hesses Glasperlenspiel, Jüngers Schriften, Heimito Doderer etc …), nur bleiben sie mir in seiner verwendeten Form fremd. Ich empfinde unseren Austausch über dieses Buch dennoch als sehr fruchtbar und bereichernd für mich. Vielen Dank dafür!

      1. Ich hab die ganzen Anleihen noch nicht einmal gefunden:) außer Thomas Mann
        Bei Daniela in der Löwengrube dachte ich sofort an Buch von Koplowitz. Mein Vater hatte mir diesen Roman ans Herz gelegt, obwohl er vom Autoren sonst nicht viel hielt.
        Tellkamp bezieht sich aber vermutlich auf dem Bibeltext.
        Dafür liebe ich die Atmosphäre die er herstellt, wenn er von der Heizrrin spricht die nachts das Werk Putz. Man hat sofort ein Bild.

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