Werner Bräunig: „Rummelplatz“

Epik gegen Stillstand.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Romane wie Fernando Pessoas „Das Buch der Unruhe“ oder Franz Kafkas „Das Schloss“ oder das lyrische Werk Emily Dickinsons, von deren 1775 Gedichte nur 7 in Journalen veröffentlicht wurden, geben einen kleinen Vorgeschmack auf die vielen sonderbaren, bemerkenswerten Texte, die vielleicht nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt, nie ihr Publikum gefunden haben. Werner Bräunigs „Rummelplatz“ hätte beinahe dazu gehört. Er wurde erst 31 Jahre nach Bräunigs Tod verlegt und hat doch nichts von seiner Intensität verloren:

„Und sahen nun das Tal unten, mit den Schächten am Hang, den roten Lichtern am Schornstein der Papierfabrik und den weißen an den Halden, Frühjahr war, wieder ein Frühjahr, da wurde das Gebirge freundlich. Oben der Wind war behutsam und führte etwas Bitteres mit von den Rinden der Bäume, und das Dumpfe war Vorjahrslaub und Erde, war Fäulnis und Trächtigkeit, und war noch anderes, das von weit her kam, das man spüren mußte oder schmecken vielleicht, und wußte keiner, was es war.“

Bräunigs Roman „Rummelplatz“ handelt von der Wismut-AG, vom Wiederaufbau, den Problemen der jungen DDR. Er ist als Entwicklungsroman konzipiert, einem Stil, einer Literatur, die durch alle Probleme hindurch, alle Widrigkeit hinweg, die Ängste durchschreitend, etwas Neues schaffen will. Differenziert, multiperspektivisch schlägt er alle Töne an und lässt alle Seiten zur Sprache kommen: Ost- wie Westdeutschland. Er klammert keine Träume aus, egal wie klein oder wie groß. Träume, Bewegung, Dynamik, Rhythmik zeichnen den Plot, die innere Motivation der Figuren aus:

Ja, dachte er, das muß man. Denn wir sind immer in Bewegung, also muß man da ein Antrieb sein, es muß eine Kraft wirken. Und wer nicht Antrieb ist, und wer nicht wirken will, und wer nicht wissen will, der bleibt immer Getriebener. Der bleibt immer ein Rädchen, und dreht sich, und dreht sich, und wird getrieben, und treibt irgend etwas, und kann nichts ändern.“

Dort denkt und spricht Christian Kleinschmidt zu sich, der eigentlich studieren wollte, aber in Bermsthal, in der Wismut-AG Freunde und Liebe findet, eine Form des Lebens, die ihn erfüllt, optimistisch, tatendränglerisch, ja selbstbewusst werden lässt. Die Wucht des Romans sprengt alle politischen Grenzlinien. Die Sprache unterminiert jedwede Kleinkariertheit. Sie zielt auf die Zukunft, aufs Höchste, auf den Mensch, der zu sich selbst kommen möchte.

So wunderten sie sich denn über die Maßen, wenn jemand behauptete, da fingen die Probleme erst an, nämlich: was ist das, Notwendigkeit? Oder ist etwa alles, was so tut, als ob, ist das etwa alles wirklich notwendig? Ist es notwendig, daß der Meier regiert und nicht der Schulze? Ist es notwendig, daß man Krebs nicht heilen kann, und jede Woche verrecken Tausende? Ja dann, Freunde, ist von Freiheit freilich keine Rede. Dann ist man bloß ein ewiger Gefangener der Notwendigkeit.“

Werner Bräunig schreibt seine Geschichte mit Vehemenz und Intensität auf. Er ähnelt auf seine Weise sehr Ayn Rand. Ihr Hauptwerk „Atlas Shrugged“ lässt sich als dunkler Bruder von „Rummelplatz“ verstehen. Beide kämpfen gegen einen Niedergang. Beide gegen Mutlosigkeit, gegen Schicksalsgläubigkeit, und zwar mit allen Mitteln einer lyrisch-pathetisch untermauerten Sprachverve.

Werner Bräunig verbindet Joseph Conrads Dunkelheit mit Jack Londons Abenteuerlust und verknüpft dies zu einem Wilden Westen, der in Bremsthal verortet wird, mit einer epischen Breite, wie sie sonst nur bei Alfred Döblin, bspw. in „Berlin Alexanderplatz“, zu finden ist.  Bräunigs Roman reiht sich ein in die wenigen, aufs Ganze gehenden Nachkriegsromane eines Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstandes“ und Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ und erfreut sich einer unverminderten Sprach- und Literaturfrische.

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