Yasmina Reza: „Serge”

Yasmina Reza: „Serge”

Seichtes über den Tod. Viel zu gefällig über eine immer kleiner werdende Welt.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2022…

Wie ein Treppenwitz der Literatur erscheint dreizehn Tage nach der Veröffentlichung von Michel Houellebecqs „Vernichten“ der Roman „Serge“ von Yasmina Reza als indirekte, aber in jedem Falle eng bezogene, wahrscheinlich aber unfreiwillige Antwort auf Houellebecqs semi-aktuelle Gegenwartsanalyse. Beide Romane behandeln ein in sich konfligiertes Familiengeflecht im heutigen Frankreich: Generationen, die sich nicht verstehen, die sich aber um Verständnis bemühen, denen aber die Sprache, die Kommunikationsmodi abhandengekommen sind. Protagonist in beiden Romanen ist ein Mann jenseits der Vierzig. In „Serge“ heißt er Jean, besucht ein Vernichtungslager, und ist von Beruf Experte für Materialleitfähigkeit.

„Ich [Jean] sehe durchaus, dass Serge und Nana schon lange zum gereiften Teil der Menschheit gehören, wie ich es auch sollte, aber diese Wahrnehmung bleibt an der Oberfläche. Tief drinnen bin ich immer noch das mittlere Kind […]“

Im Gegensatz zu Michel Houellebecqs Alterswerk „Vernichten“ fehlt in „Serge“ nicht der Humor und die Selbstironie. Das Scheitern scheint zu offensichtlich, um es Anathema bleiben zu lassen. Die Sätze sind kurz. Die Episoden schnell. Rezas Stil ist kompromisslos und jagt zielsicher auf kleine Pointen zu, um die Absätze abzurunden. Eltern sterben. Kinder scheitern an den eigenen Ansprüchen. Beziehungen ächzen und krächzen unter den gegenseitigen Erwartungshaltungen. All dies liest sich rund und schnell von Seite zu Seite, bis es einem irgendwann wie Schuppen von den Augen fällt, dass alle Kommunikation, alle Versuche, alles Gegenseitige auf Sand gebaut ist, in der sprichwörtlichen Luft hängen bleibt, und ein gähnender Abgrund, der Tod, hinter allem klafft.

„Gestern habe ich in der Rue Honoré-Pain gesehen, wie eine Taube auf die Straße fiel. Sie landete auf dem Rücken, ihre Flügel schlugen noch ein paar Sekunden. Dann war sie tot. Von einem Vordach schaute eine Gruppe anderer Tauben auf sie herunter. Ich fragte mich, was die wohl fühlten.“

Die Gemeinschaft erscheint nicht nur als Tröstung, auch als Bedrohung. Der Rabe, in der Mythologie ein Unglücks- und Todesbote, spielt für Jean eine große Rolle. Immer wieder taucht er auf und verheißt Ungutes. Jean unternimmt einen Wettlauf mit dem Tod, versucht sich abzulenken, seinem Leben Sinn zu verleihen, aber scheitert auf Tritt und Schritt. Um sich aus der Lethargie zu reißen, entscheidet sich der Protagonist, eine Reise zu unternehmen, dessen Ziel eigenartigerweise in dem Roman keine wirkliche Rolle spielt und auch nach Mallorca hätte gehen können. Der Klappentext verspricht hier viel zu viel. Der Roman handelt von der eigenen individuellen Sterblichkeit und dem Versagen, dieser die Stirn zu bieten:

„Wenn Tiere den Tod nahen spüren, stellen sie ihre Bewegungen ein. Hättest du [Jeans Onkel] dich wenigstens noch aufgeregt! Hätte ich wenigstens noch Entsetzen oder Aufbegehren gespürt! Aber nein, du warst resigniert, du gingst fügsam zur Schlachtbank. Wir brauchen leuchtende Beispiele, die unser Menschenbild fortentwickeln.“

Mit Vergangenheitsaufarbeitung hat dies alles nichts zu tun, jedoch sehr viel mit der modernen Subjektivität, sich eher passiv als aktiv zu fühlen und zu hoffen, statt sich für etwas zu begeistern. „Serge“ hat viele Ähnlichkeiten mit Heinz Strunks „Es war immer so schön mit dir“ und Michel Houellebecqs „Vernichten“. Die Sprache ist flüssig, aber einfach und fordert nicht viel ab. Insgesamt ein eher oberflächlicher, eher schnell zusammengeschriebener Text, der zu schocken versucht. Yasmina Rezas Roman „Serge“ ist die dunkle, aber gesittete Schwester von Houellebecqs „Vernichten“ – viel kürzer, jedoch gerade lang genug, um die Angst vor der Sprachlosigkeit zu nähren.

Aber nicht zu vergleichen mit Peter Weiss‘ „Meine Ortschaft“ und dem Theaterstück „Die Ermittlung“, die sich als Anschlusslektüre sehr empfehlen.

5 Gedanken zu „Yasmina Reza: „Serge”“

    1. Na ja, was sich vernichtet ist die Verbindlichkeit und Anschlussfähigkeit von Kommunikation. Vielleicht habe ich etwas überzogen … das Buch hat überzeugende Stellen, aber es wirkte auf mich eher halbfertig, eine grobe Skizze für etwas, was sich poetisch ausgestalten lässt. Houellebecq hat mich mehr berührt, weil dort jemand tatsächlich aufgegeben hat, und man spürt es. Der Widerstand ist gebrochen. In “Serge” gibt es nicht einmal dieses Zerbrechen. Es ist einfach nichts mehr da. Ich würde aber andere Bücher wieder von ihr lesen – sprachlich hatte es teilweise großen Witz.

        1. Ich bereue es nicht, es gelesen zu haben. Ratlos bin ich jedoch geblieben und ein wirklicher Stil, eine Dynamik hat sich nur jeweils sehr kurz eingestellt, so wie ich es las. Es stockte und zauderte, uneins mit sich. Das habe ich versucht auszudrücken. Gemeinsam mit Houellebecq hat es, dass große Themen angegangen und dann nonchalant links liegen gelassen werden – wie als Aufhänger, Teaser. Ich würde viel eher Jessica Linds “Mama” lesen. Das ist krass – ich konnte es nicht weglegen. Fröhlicher ist Claudia Durastanti “Die Fremde” (https://read2write.org/claudia-durastanti-die-fremde/), für die ich permanent Werbung machen möchte, einfach weil sie so verrückt und lebensfroh ist 🙂

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