Annie Ernaux: „Der junge Mann“

Nostalgisches Erinnerungsmosaik mit beinahe poetischen Zügen.

Ausführlicher, vielleicht begründeter: https://kommunikativeslesen.com/2023/…

Annie Ernaux’ Text „Der junge Mann“ lässt sich in einem Zug problemlos durchlesen und kann der Gattung Novelle zugeordnet werden, denn die Kürze und die erzählte Begebenheit deuten auf ein unerhörtes Ereignis an. Ob sich darin tatsächlich ein Normenbruch verbirgt, um den Begriff Novelle nach Goethes Begriff zu begründen, lässt sich jedoch kaum sagen, denn die erzählte Begebenheit handelt lediglich um die Beziehung einer älteren Frau zu einem jüngeren Mann:

„Mein Körper hatte kein Alter mehr. Erst der zutiefst missbilligende Blick der Gäste am Nebentisch im Restaurant rief es mir wieder in Erinnerung. Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“

Die Erzählzeit liegt in den 1990er Jahren, kurz vor Anbruch des neuen Jahrtausend. Die Ich-Erzählerin sagt zu Anfang, dass sie vierundfünfzig Jahre alt sei. Fällt also der Geburtstag der Ich-Erzählerin mit dem verbürgten der Autorin zusammen, spielt sich die Begebenheit im Jahr 1994 ab und dauert knapp fünf Jahre. In dieser Zeit pendelt die Ich-Erzählerin zwischen ihrem Wohnort und Rouen, wo der junge Student lebt und studiert wie seinerseits die Ich-Erzählerin. Sein Umzug nach Paris markiert das Ende der Beziehung:

„Dieses Gefühl war ein Zeichen dafür, dass seine Rolle in meinem Leben, die eines Zeitöffners, vorbei war. Meine initiatorische Rolle in seinem vermutlich auch. Er zog von Rouen nach Paris.
Ich begann die Erzählung meiner heimlichen Abtreibung, die ich lange umkreist hatte. Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis, das vor seiner Geburt stattgefunden hatte, vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen.“

Annie Ernaux‘ Ich-Erzählerin rekapituliert also eine implizite Entstehungsgeschichte des Buches „Das Ereignis“, das 2000 erschien und von der heimlichen Abtreibung handelt. Die Beziehung zum jungen Studenten wirkt als Katalysator, sich dieser Phase ihres Lebens wieder zu öffnen, den Problem mit dem Klassenbewusstsein, zur Bildungsbürgerschicht oder zum Proletariat zu gehören. Als Schriftstellerin hat sie diese Ambivalenz aufgelöst und ihre Reise aus dem Proletariat beendet, denn sie kann nun angesichts des jungen studierenden Proleten sagen:

„Bei meinem Mann hatte ich mich als Proletin gefühlt, bei ihm war ich Bildungsbürgerin. Er war Träger der Erinnerungen an meine erste Welt.

Das hauptsächliche Merkmal dieses sehr kurzen Textes besteht in der Form der Erinnerungsführung – sie ist nicht chronologisch, nicht raumhaft, nicht äußerlich, sondern körperlich, eine Art diaphane Erinnerungsmembran, die durch die Worte angespielt wird. Hier ähnelt der Text keiner Novelle, da keine Fabel erzählt wird. Einen wirklichen Plot gibt es auch nicht. Es erscheint mir als filigrane Selbstbespiegelung eines autonom gewordenen Gedächtnisfragment, also einer Art mnemosynthetische Ballade.

„Bei mir streifte er den Morgenmantel mit Kapuze über, den schon andere Männer angezogen hatten. Wenn er ihn trug, sah ich keinen von ihnen vor mir. Beim Anblick des hellgrauen Frotteestoffs empfand ich lediglich das warme Gefühl meiner eigenen Dauer und der Beständigkeit meines Begehrens.“

Annie Ernaux‘ Text lohnt als Lektüre. Die Ich-Erzählerin spricht frei, rund und unumwunden von sich, von dem sehr Privaten, das ein sehr Öffentliches wird. Die Allegorie einer Inspiration in Form eines jungen Mannes trägt sich knappe dreißig Seiten lang, ohne Anfang und Ende, ein Erinnerungsfragment und Mosaikstein im Gesamtwerk des Schreibunterfangens von Annie Ernaux und ihrer Vivisektion des eigenen Lebens. Auf ihre Weise stellt ihr Schreiben ein Umkehrakt zum Werk Claude Simons dar. Wo er sich im Räumlichen verliert, wie in „Die Trambahn“, verliert sie sich im Körperlichen und nähert sich auf eigentümliche Weise einer nostalgischen Friederike Mayröcker mit “da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete”.

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