Deniz Ohde: „Ich stelle mich schlafend“

Atmosphärisch stimmig. Ein Erzählsound, durchgängig aufrechterhalten, der sich den Zwang auferlegt, oberflächlich zu bleiben. Schade.

Deniz Ohdes zweites Buch „Ich stelle mich schlafend“ lässt sich als eine Erweckungsliteratur begreifen, der den Mut zur eigenen Courage fehlt. Mittels Yasemine, der Protagonistin, wird von Schuld, körperlicher Entfremdung, von Übergriffen, Obsessionen und Distanznahmen erzählt:

Aber davon wusste Yasemin noch nichts, daran dachte sie auch nicht, als sie nun, achtzig Jahre später, vor speziellen Spiegeln in ein Verwandtschaftsverhältnis mit dieser Pionierin [der Krankengymnastin] trat und sich auf sich selbst besinnen sollte. Ein Gefühl für ihren Körper entwickeln, den sie bisher mehr als Vehikel gesehen hatte, das man wohl oder übel ab und zu mit Gemüse und Wasser füttern musste, damit es einen durch die Welt trug. An ihren Atem hatte sie schon gar nie gedacht.

Auf engstem Raum werden religiöse, sexuelle, politische, beziehungstechnische Untiefen der Erwachsenwerdung Yasemines verhandelt. Am Anfang steht vor allem die Freundschaft mit Immacolata im Vordergrund. Empathisch, tiefsinnig, wird das Heranwachsen dieser zwei sehr unterschiedlichen Mädchen beschrieben, die sich eine mystische, freie Welt zusammenglauben. Hier sprudelt die jugend-kindliche Phantasie, und mehr als nur das weite, noch unbeschrittene Leben steht vor ihnen. Ein Kosmos an Möglichkeiten ergibt sich durch die Anrufung von Hexen und mystischen weiblichen Naturwesen:

Von weitem sah Imma Yasemin da in der Dämmerung laufen, ein Auto fuhr mit gleißenden Scheinwerfern vorbei, die schlangenförmigen Hochhäuser ragten am Ende der Vogesenstraße in den dunkelblauen Himmel, sie blickte geradeaus, lief mit großen Schritten, und ihr Mantel bauschte sich hinter ihr auf. »Du sahst aus wie eine echte Hexe«, beschrieb sie ihr später das Bild.
Am Ende des Abends saßen sie in Lydias Wohnzimmer, Yasemin hatte noch den Lidschatten in den Augenwinkeln, wodurch ihre helle Iris noch eindringlicher leuchtete, wenn sie sich im Fenster sah.

Hier, zwischen Lydia, der Kosmetikerin, Imma, der draufgängerischen Freundin, und Yasemin, der zurückgezogenen Phantastin spannt sich ein weites Feld an Möglichkeiten auf, das narrativ den Anfang von „Ich stelle mich schlafend“ in einen träumerischen Exkurs des Möglichkeitsdenken verwandelt, Zwischenräume der Geschichte, der Persönlichkeiten, Schatten- und Lichtseiten, auf engstem Raum atmosphärisch geballt, beleuchtet.

Leider bleibt Ohde nicht hierbei. Die Freundschaft mit Imma zerbricht unversehens und ziemlich abrupt, eine unausgegorene Beziehung mit einem Grunge-Typen gerät in gefährliche Untiefen, ein Reitunfall unterminiert Yasemins ohnehin gestörtes Körpergefühl, der Beruf, die Ausbildung, werden nur nebenbei, stichwortartig wie die darauffolgenden Beziehung tabellarisch (!) erwähnt. Am Ende geht schließlich irgendwie alles zu Bruch und irgendwie auch nicht:

Eine Version ihrer selbst, die in einem Paralleluniversum existierte, in dem nichts mit ihr geschehen war. In dem es keine Hand brauchte, die ihr befahl, in sie zu atmen. In dem es keine Hand gab, die sie im Türrahmen festhielt. In dem sie jedem Griff entglitt, wie Wasser durch Finger floss.

Ohdes „Ich stelle mich schlafend“ besitzt viele intensive Szenen, insbesondere in den Jugend- und Kindheitsbeschreibungen, sobald aber die Erwachsene ins Spiel kommt, wird klar, dass die Erzählerin einem kindlichen Ich verbunden bleibt, und von der Erwachsenenwelt nichts zu berichten weiß (und hier sogar zur stichwortartigen Abhandlung der Ereignisse übergeht, als wäre Literatur Stenographie). In ihr geht es nur um Sex, Gewalt, Obsession und Verwirrung.

Das Buch fliegt auseinander, sobald die Coming-of-Age-Geschichte abgeschlossen wird. Auf seine Weise stark verbandelt mit Terézia Moras „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ und Judith Hermanns „‎Wir hätten uns alles gesagt“: Ähnlich stark in der Stilistik, ähnlich unüberzeugend in der Komposition; ähnlich gut im Auffangen einer Stimmung, ähnlich beliebig in der narrativen Gestaltung eines Textes. „Ich stelle mich schlafend“ gleicht eher einem Erzählband, einer losen Assoziationsübung und überzeugt als Romanganzes deshalb nicht. Nun bleibt die Geschichte der zwei jungen Hexen leider unerzählt, die so viel uneingelöstes Potential besaß.

Inhalt: 2/5 Sterne (Coming-of-Age-Thematik)
Form: 4/5 Sterne (atmosphärisch, dichte Sprache)
Komposition: 2/5 Sterne (rahmenlose Gesamtdarstellung)
Leseerlebnis: 2/5 Sterne (begeistert, dann enttäuscht)

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