Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“

Mutter … ein Verriss oder: eine Tochter tritt nach.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Bei manchen Gegenwartsliteraturen verwischen sich die Tradierungsformen. Früher ließ sich die gesprochene von der Schriftsprache klar unterscheiden. Heutzutage, im Zeitalter der Hörbücher, lesen sich manche Texte wie die unredigierten Transkriptionen eines mitgeschnittenen Gespräches unter Befreundeten. In „Lügen über meine Mutter“ spricht sich nun Daniela Dröscher ausgiebig über eine fettleibige Mutter aus:

„Mit dem Alter ist dieser offene Furor in ihr [der Mutter] erloschen. Nach und nach ist sie immer stiller geworden. Aber nicht weniger dramatisch. An die Stelle der Wutausbrüche rückten Posen der völligen Selbstaufgabe. Miniaturen der Traurigkeit. Wie sie vom Balkon aus sehnsüchtig in den Himmel blickt. Wie sie mit letzter Kraft einen Kuchen in den Ofen schiebt. Wie sie stoisch die Schmerzen erträgt, die jede Bewegung für sie bedeutet. Das Schlimmste aber war ihr Blick. Eine Einsamkeit, schwer und grau wie Blei, schimmerte darin.“

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Djaimilia Pereira de Almeida: „Im Auge der Pflanzen“

Eindrucksvolle Tristesse über den Lebensabend eines Mörders – poetisch beklemmend.

Die Literatur kennt nicht viele alternde Verbrecher. Was aus den Mördern, Tätern wird, findet selten Beachtung. Die auf Portugiesisch schreibende und aus Angola stammende Autorin Djaimilia Pereira de Almeida hat einen Kurzroman geschrieben, der diese Lücke zwar nicht zu füllen versucht, hierfür ist dieser mit gerade mal knapp 130 Seiten umfassende Text viel zu kurz, jedoch zumindest das Augenmerk auf diese Fehlstelle im Literaturuniversum lenkt. Celestino, der Protagonist ihres Romanes „Im Auge der Pflanzen“, hat sein Leben als Pirat zugebracht, hat gebrandschatzt, gemordet, gequält und gefoltert und sucht nun im Ruhestand seinen Seelenfrieden bei der Gartenarbeit zu finden. Es gelingt ihm aber nicht:

„Die Pflanzen sahen den Gärtner so, wie Pflanzen sehen. Sie empfanden keine Dankbarkeit. Sie behandelten ihn, der sie goss, wie den Regen, der in den Herbstnächten auf sie niederfiel. Sie blühten nicht, um den Gärtner in ein Gespräch zu verwickeln, sie unterstrichen damit nur ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Liebe, die er ihnen unablässig erklärte. Ihnen war es egal, ob ein Mörder sich um sie kümmerte, ob die Hände, die sie hielten, schmutzig waren und was vor der Liebe gewesen war, die er ihnen schenkte.“

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Marietta Navarro: „Über die See“

Unaufgeregt und doch intensiv … die Seefahrt als Allegorie für eine ruhende Kraft.

Wer eine Mischung aus Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, Franz Kafkas „Der Prozess“ und Grusel-Gothic-Erzählungen wie Edgar Allan Poes „Das verräterische Herz“ zu schätzen weiß, einen leicht surrealistischen Stil à la André Breton wie in „Nadja“ genießt und dies alles aber in Ruhe zusammengefügt, aufgeschrieben, in seiner Schlichtheit beinahe an Thomas Manns „Meerfahrt mit Don Quijote“ erinnernd, lesen möchte, der ist mit Mariette Navarros Büchlein „Über die See“ sehr gut beraten:

„Als sie durch sie [die Schiffsmechaniker] hindurchschaut, spürt sie deutlich ihre müden Beine, aber sie hält sich nicht damit auf und bohrt sich [in ihrer Vorstellung] tiefer, bis auf den Grund des Schiffes. Dann folgt die letzte Bodenplatte, goldbraun wie Schuppen, und direkt darunter: ein großes Herz quicklebendig, ein riesiges Stück rotes Fleisch, das sich in dumpfen Schlägen zusammenzieht, die durch den Schiffsrumpf noch verstärkt werden. Sie sieht das Blut, das aus dem Herzen strömt und den ganzen Frachter von unter versorgt, ein Netz aus blauen und roten Adern, ein Gewebe aus Venen und Äderchen, damit das Schiff schwimmt.“

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Ferdinand von Schirach: „Nachmittage“

Stilübungen im Ungefähren – vom Nachahmen, Fernwünschen und Erhabenfühlen.

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Wer die vermeintlich gute alte Welt schätzt, Männer mit sündhaft teuren, handgefertigten Manufaktur-Armbanduhren, die sich 40 Jahre alten Whiskey, in spanischen Sherry-Fässern gereift und in viereckigen Gläsern on the rocks serviert, bringen lassen, die in Frack, mit weißen Handschuhen und Goldmanschettenknöpfen Damen die Tür öffnen und ihren Mantel auf die Schultern der vor Kälte schlotternde rehäugigen Frau legen, findet in Ferdinand von Schirachs Erzählband „Nachmittage“ eine Nische zum Wohlfühlen:

„Der Mann, der dieses Haus vor 480 Jahren gebaut hatte, stammte aus den »case vecchie«, den alteingesessenen Häusern Venedigs, wurde wohlhabend durch den Handel mit Afrika und ließ hier einen Sommersitz für seine Familie und sich errichten. Dann starb seine Frau, und er betrat nie wieder dieses Haus. Ich stelle mir vor, wie er auf den Steinstufen saß, auf denen ich jetzt sitze, wie er die gleiche Landschaft sah und den gleichen Fluss hörte.“

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Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Ein seltener Glücksfall von literarisch und sprachlich überzeugender Geschichtsschreibung.

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Ich hätte diesen Roman beinahe nicht gelesen. Die Vorzeichen standen zu schlecht: Kriegszeit, alter Mann mit junger Frau, Vergewaltigungsszenen, und die Geschichte einer treulosen Frau, die ihren hart arbeitenden Ehemann in den Ruin treibt. Doch wie so oft, so kommt auch in Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“ alles anders, als man denkt. Rothmann beschreibt eine Reise durch die Nacht, ein Zusammenspiel von Not und Elend auf eine Weise, die den Hoffnungsschimmer der Sprache zum Leuchten bringt:

„Fast zwei Wochen lang, in denen immer neue Menschen eintrafen, ankerten die vollgestopften Kähne zwischen Scharbeutz und Neustadt in der Lübecker Bucht, und es gab kaum sanitäre Anlagen, nichts zu essen und selten Wasser an Bord. Größtenteils im Dunkeln eingepfercht, ließen die zu Tode erschöpften und vor Durst oft irrsinnigen Menschen ihren Kot unter sich, wo sie saßen oder lagen. Viele starben denn auch an Fleckfieber oder Typhus, und weil man die Leichen wegen der Küstennähe nicht ins Meer werfen wollte – es war Anfang Mai, trotz des Krieges wurden die ersten Strandkörbe aufgestellt –, mussten die noch Lebenden zwischen den Verwesenden liegen.“

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Isabel Allende: „Violeta“

Hilfloses Irren durch die Weltgeschichte mit vorhersehbarem Fazit: Nur die Liebe zählt.

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Der neue Roman von Isabel Allende „Violeta“ stellt eine fiktive Autobiographie der Protagonistin und Ich-Erzählerin Violeta del Valle dar, die im Alter von hundert Jahren ihrem Enkel Camilo Briefe schreibt, um aus ihrem Leben zu erzählen. Zumal Camilo als Jesuit-Priester in Armut lebt und den Bedürftigen Chiles hilft, aber auch, weil der besagte Camilo eine sehr bewegte Vergangenheit hat, versucht sie auf dem Sterbebett noch einmal Einfluss auf ihn zu nehmen, denn so richtig stellt der Lebenswandel ihres Enkels Violeta nicht zufrieden:

„Es war nicht das erste Mal, dass der Rektor Dich einer Teufelei bezichtigte. Er hatte mir schon früher damit gedroht, Dich der Schule zu verweisen, als Du auf das Maskottchen des Internats, eine Schildkröte, gekackt hattest und als Du wie eine Spinne an der Fassade der Zentralbank hinaufgeklettert bist, Dich dort an die Fahnenstange gehängt hast und die Feuerwehr Dich retten musste.“

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Toril Brekke: „Ein rostiger Klang von Freiheit“

Rostige statt rosige Zeiten. Ein trauriger Roman übers Erwachsenwerden.

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Aufwachsen ist nicht leicht. Weder in den 1960er noch zu anderen Zeiten. Aufwachsen beinhaltet oft, oder fast immer, irgendeine Form von Enttäuschung, Desillusionierung. Oft gehen geliebte Selbst- und Fremdbilder zu Bruch. Familienmitglieder entfremden sich voneinander. Weihnachtsfeste, die früher zu den Höhepunkten des Jahres gehörten, finden kaum noch ohne Streit statt. Toril Brekke, eine norwegische Autorin und Kinder- und Jugendbuchschriftstellerin, erzählt in ihrem Roman „Ein rostiger Klang von Freiheit“ von einstürzenden Traumwelten einer ohnehin schon im Zusammenbruch befindlichen Kinder- und Jugendwelt:

„Ich glaubte, dass er verschwunden war, unterwegs zu einem Hafen, und wir hatten keine Ahnung, wie das Schiff hieß oder für welche Reederei es fuhr.
Stimmt irgendwas nicht, Aggi? Fragte Isak.
Ich konnte nichts sagen, schüttelte nur den Kopf.
Du wirkst so nachdenklich, sagte der Klavierstimmer.
Ich schaute ihn an, unsere kleine Familie zerfiel, und er hatte keine Ahnung davon.“

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