Ralf Rothmann: „Die Nacht unterm Schnee“

Ein seltener Glücksfall von literarisch und sprachlich überzeugender Geschichtsschreibung.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Ich hätte diesen Roman beinahe nicht gelesen. Die Vorzeichen standen zu schlecht: Kriegszeit, alter Mann mit junger Frau, Vergewaltigungsszenen, und die Geschichte einer treulosen Frau, die ihren hart arbeitenden Ehemann in den Ruin treibt. Doch wie so oft, so kommt auch in Ralf Rothmanns Roman „Die Nacht unterm Schnee“ alles anders, als man denkt. Rothmann beschreibt eine Reise durch die Nacht, ein Zusammenspiel von Not und Elend auf eine Weise, die den Hoffnungsschimmer der Sprache zum Leuchten bringt:

„Fast zwei Wochen lang, in denen immer neue Menschen eintrafen, ankerten die vollgestopften Kähne zwischen Scharbeutz und Neustadt in der Lübecker Bucht, und es gab kaum sanitäre Anlagen, nichts zu essen und selten Wasser an Bord. Größtenteils im Dunkeln eingepfercht, ließen die zu Tode erschöpften und vor Durst oft irrsinnigen Menschen ihren Kot unter sich, wo sie saßen oder lagen. Viele starben denn auch an Fleckfieber oder Typhus, und weil man die Leichen wegen der Küstennähe nicht ins Meer werfen wollte – es war Anfang Mai, trotz des Krieges wurden die ersten Strandkörbe aufgestellt –, mussten die noch Lebenden zwischen den Verwesenden liegen.“

Rothmann nimmt kein Blatt vor dem Mund. In seinem Roman zeichnet er das pure Elend der vom Krieg Traumatisierten nach, von Rückkehrern, Geflohenen, Vertriebenen, die hoffen, irgendwo wieder einen Platz zum Ausruhen und Kraft schöpfen zu finden. Sie finden ihn aber nicht. Sie können ihn nicht mehr finden. Das Grauen hat alles unterminiert. Die körperlichen Qualen, die Erinnerungen, die Narben und Wunden sitzen zu tief. Es herrscht Misstrauen trotz Liebe. Es herrschen Ängste statt Hoffnungen. Die Welt ist nicht nur aus den Fugen gegangen. Sie ist zersplittert und entzwei gesprengt worden:

„Er trug einen Verband auf dem Ohr, und ein rötlicher Schein glitt über seine Brillengläser, während er sagte: »Kiek da rüber, Kindchen, ist fürs Leben.« Schnee fiel, wenig nur, und sie blickte an ihm vorbei zum Horizont, auf die Ebene zwischen den Waldsäumen. Wie ein Kartoffelfeuer im Frieden sah es aus, ein Glutberg auf dem Acker; doch waren hier und da schiefe Giebel, schwarze Dachgerippe und verkohlte Masten zu erkennen, und dass dort Danzig brannte, mochte sie erst glauben, als sie den Turm der evangelischen Marienkirche erkannte. Gewaltig ragte er aus dem Rauch in die Nacht, und weil der flackernde, vom Wind immer wieder bis zur Weißglut angefachte Feuerschein sich in der Mottlau spiegelte, dachte sie momentlang, auch das Wasser würde brennen.“

Erzählt wird die Geschichte von Elizabeth und zwar aus der Sicht ihrer Jugendfreundin Luisa. Sie erzählt aus der Ich-Perspektive von Elizabeths Ehe mit Walter und aus der Sie-Perspektive die Flucht von Elizabeth selbst. Elizabeths bewegtes Leben spielt sich zwischen Kartoffeln und Blumenkohl, zwischen Gast- und Wirtshäusern, zwischen Landleben und Lotterleben ab. Sie findet keine Ruhe, und mit jeder Seite des Romanes wird auch klar, weshalb. Das Buch endet mit dem Sterben Elizabeths, ohne dass der Roman, also der Schriftsteller, noch seine Erzählerin behaupten, wirklich zu verstehen, was sich in Elizabeths Gefühlsleben nach ihren Jugend- und Früherwachsenerlebnissen abgespielt hat:

„Man hat ein gutes Empfinden füreinander, oder man hat es nicht, man freut sich aufeinander oder geht sich aus dem Weg, und meine selbstverständliche, aus der Kindheit herübergerettete Zuneigung und Anhänglichkeit war seit dem letzten Gespräch dahin und konnte durch dieses Nachdenken kaum belebt werden. Und am Ende wollte ich Elisabeth, ihr Gesicht voller Berührbarkeit und ihr Herz voller Kälte, auch gar nicht mehr verstehen – was mir durchaus Skrupel bereitete. Aber immerhin schien es mir eine Form von Respekt zu sein.“

Rothmanns Roman überzeugt von Anfang an mit seiner Intensität, mit seiner klaren, deutlichen, rhythmischen Sprache. Nirgendwo fällt die Geschichte ab ins Banale. Nirgendwo ins Klischierte. Er entgeht den Fallen, in die die typischen Geschichtsromane bedenkenlos hineintappen, indem sie zu persönlich, zu intim, fast voyeuristisch und urteilend werden. Rothmann hält Distanz durch die Sprache. Sie erlaubt eine Bewegungsfreiheit, die einlädt, jeden Satz mehrmals zu lesen, um ihm neue Aspekte, Erinnerungsspuren und Konnotationen zu entlocken.

Ralf Rothmanns Roman steht in Tradition von Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ und Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“, ohne diese zu plagiieren. Er verarbeitet Werner Bräunigs „Rummelplatz“ gelungen und mischt Elemente von Gustav Flauberts „Madame Bovary“ hinzu, ohne zu langweilen. Er verbindet so gefühlsgeladene Familiengeschichten wie Susanne Abels Gretchen-Reihe („Stay away from Gretchen“, „Was ich nie gesagt“) oder Jan Weilers „Der Markisenmann“ mit vielschichtiger, differenzierter Erzählfreude, wie es nur wenige können.

Wer von Uwe Tellkamps letztem Roman „Der Schlaf in den Uhren“ enttäuscht ist, darf mit Ralf Rothmann „Die Nacht unterm Schnee“ für die Gegenwartsliteratur wieder Hoffnung schöpfen.

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