Kim de l’Horizon: „Blutbuch“

Alter Wein in neuen Flaschen … Zeugnis einer literarischen Entsublimierung.

Ausführlicher und vielleicht begründeter:  https://kommunikativeslesen.com/2022/…

Transliterarische Texte bewegen sich in einem eigenartigen und eigenwilligen Spektrum. Es schillern zwischen allen Zeilen und Sätzen avancierteste akademische Theorien in Verbindung mit einer surrealistischen Écriture Automatique, die keine Grenzen akzeptiert und auch keine Grenzen akzeptieren kann, denn es geht schlicht ums Ganze, um das Leben, den Körper, das Universum und den ganzen anderen Rest. Kim de l’Horizons Roman gibt sich alle Mühe, dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen. Schließlich gilt es dem Elend, der Zerstörung, den sozioökonomischen Zwängen ein freies, ungebremstes Schreiben entgegenzusetzen, ein Schreiben, das ohne Scham Authentizität zu beanspruchen vermag:

„Liebe Oma, als ich Dina auf dem Bauch hatte und ihr die Haare streichelte, fiel mir wieder ein, wie sehr ich es hasste, von dir gehalten zu werden. Von deinen großen, rauen Arbeiterhänden. Deine Haut fühlte sich an wie eine einzige Wunde, die mit einer groben Kruste überzogen war, die nie verheilte. Deine Hand war immer irgendwo auf meinem Körper – auf meinem Arm, meinem Schenkel, meinem Bauch –, und sie bewegte sich. Immer, nervös, streichelnd.“

Der zitierte Text steht als Übersetzung im Anhang des Romans. Die Passage selbst, im Fließtext, wurde auf Englisch verfasst, denn nur auf Englisch, die Sprache, die seine Großmutter und Mutter, die kaum des Hochdeutschen mächtig sind, nicht verstehen, vermag die Ich-Erzähler-Instanz seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Insofern erklären sich die vielen Neologismen und englischen Lehnwörter im Rest des Romans. In diesem Sinne endet auch das Buch auf Englisch und nicht auf Berndeutsch oder Hochdeutsch und zwar aus einer Distanznahme seiner eigenen, ihn herabziehenden Herkunft gegenüber heraus. Sein Schreiben richtet sich gegen das Elend seiner Arbeiterabstammung, gegen die harte, lebenslange Arbeit seiner Großmutter und Mutter, die sich verdingen mussten, um das Überleben der Familie zu sichern:

„Die Literatur ist – abgesehen davon, dass sie ein bürgerlicher Zweig der Kunst ist – eines der wenigen kapitalistischen Spiele, bei denen meine Überempfindlichkeit und meine Angst nützlich sind. Wer die sozioökonomischen Aspekte des Schreibens leugnet (so prekär sie auch sein mögen), wer sagt, dass es in der Literatur nur um den ästhetischen Ausdruck unsagbarer Abgründe geht, ist ein reiches Kind, das ich schlagen möchte. Was ich sagen will: Ich benutze dich, um aus der schlammigen Klasse herauszuschwimmen, in die ich hineingeboren wurde, um ans Ufer zu schwimmen. An ein Ufer.“

Es ist schwierig, einem derart ehrlichen, entwaffnend offenherzigen und leutseligen Text noch als Literatur wahrzunehmen. Es stellt vor allem eine Dokumentation, eine Injektion, ein Einspruch dar. Ein Individuum äußert sich. Es spricht von sich. Es erklärt und befreit sich auf seine ihm mögliche Art und Weise. Hierbei werden alle Hemmungen, Schamgrenzen, alle Höflichkeitsriten und Besonnenheiten über Bord geworfen. Körper, Gefühle, Ängste, Nöte, libidinöse Rituale, Exorzismen gehören zum Spektrum wie brutaler Exhibitionismus und Entblößung noch der privatesten Details und Familienangelegenheiten. Es gilt alles an die Öffentlichkeit zu bringen. Alles auszuposaunen, nicht mehr stillzuhalten, alles zu geben und von sich zu geben und niederzuschreiben, was bedrückt, einengt, was unterdrückt und niederhält. Das nimmt zum Teil sonderbare dadaistische Züge an:

„Mach mich strong! Gib mir force!
(Irgendeine, nicht unbedingt die eine)
Hier auf meine Klaue dar. Ich bet dich an
Exorzier mir all die Stimmen aus, die mit meiner Stimme sprechen
Und mit meinem Fleisch begehren
Schliess die Blicke, die mit meinen Augen licken
Bitte gib mir eine andre Stimme
Zu bezaubern enchanten umsingen“

Kim de l’Horizon verleiht sich selbst einen aristokratischen Anstrich. Der Roman steht in der Tradition der Dandy-Romane nach Joris-Karl Huysmans, dessen „Gegen den Strich“ aus dem Jahr 1884 Pate für viele Passagen steht. Auch die traumschreibenden, krakeelenden Surrealisten rundum André Breton führen teilweise die Feder, und nicht zu sprechen von Carl Einsteins Expressionismus in „Fabrikation der Fiktionen“, geschrieben in den 1930er Jahren. Die Verwandtschaft, die jedoch am meisten überrascht, wäre die mit Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ aus derselben Zeit, die ähnlich intensiv von Männerbegegnungen und -zerrüttung berichtet, nur kriegerisch und nicht wie bei de l‘Horizon sexuell. „Blutbuch“ trägt an seinem Erbe schwer. Es mischt die Formen und sucht einen Ausweg aus dem eklektizistischen Labyrinth, in das es sich selbst verortet und geworfen hat.

Am Ende läuft das Publikum Gefahr ratlos zurückzubleiben, denn nicht jeder sieht in einem zerbrochenen und wieder zusammengeklebten Pissoir eine Hommage an Marcel Duchamp. Manche jedoch schon.

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