Daniela Krien: „Mein drittes Leben“

Melodramatisch-gestaltete Traumabeschreibung mit angezogener Handbremse, andeutungsweise, erzählt.

Nach „Der Brand“ aus dem Jahr 2021 legt Daniela Krien, Gewinnerin des Sächsischen Literaturpreises 2020, mit „Mein Drittes Leben“ ihren neuen Roman vor. Wie „Der Brand“ spielt er hauptsächlich auf dem Land, in der Nähe von Leipzig, befindet sich die Ehe der Protagonistin in einer Krise, kümmert sie sich um einen gemieteten Bauernhof und versucht in der Abgeschiedenheit vom Großstadtrummel ihr Leben wieder in eine Bahn zu bringen:

Mit den Sinnsprüchen auf den Vorderseiten überbrückt [meine Mutter] die eigene Sprachlosigkeit. Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du heute von Neuem beginnen. (Buddha) – Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann. (Marie von Ebner-Eschenbach) – Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen. (Guy de Maupassant) Aber hier, in meinem dritten Leben, sind es nicht die Menschen. Es sind die Tiere und die Pflanzen und der Wind und die Bilder der Toten an den Wänden.

Wie der Klappentext bereits preisgibt, das dritte Leben Lindas, der Protagonistin, beginnt mit dem Unfalltod ihrer Tochter Sonja, die auf dem Weg zu ihrer Frauenärztin von einem rechtsabbiegenden LKW überrollt wird. Richard, ihr Vater, und Linda gehen verschiedene Wege der Trauerverarbeitung. Linda isoliert sich. Richard sucht wieder Anschluss und Trost in seiner künstlerischen Tätigkeit. Linda sieht aber keine Zukunft mehr für sich. Vor Sonja war alles falsch und nach dem vorzeitigen Tod Sonjas ist wieder alles falsch:

Vor Sonja bin ich ein eigenständig fühlender, doch unvollendeter Mensch gewesen, ein Individuum ohne Zusammenhang. Ab ihrer Geburt war mein Lebensglück ihrem unterworfen. Von Beginn an und bis über ihr Ende hinaus bin ich das, was sie ist – glücklich, unglücklich, ängstlich, traurig, euphorisch, lebendig oder tot. Denn wenn ein Kind geht, nimmt es dich mit. Es lässt nicht mehr von dir zurück als eine welke Hülle.

Aus der präsentisch-erzählten Ich-Perspektive gewährt Krien ungefilterte Einblicke in Lindas Gefühlsleben. Szenische Sequenzen werden begleitet von Erinnerungen, so dass es eine Art doppelten narrativen Verlauf gibt: Die Aufarbeitung der Vergangenheit (durch Erinnerung), das Durchlaufen des Traumas (durch Dialoge und Handlung). Krien setzt hier auf eine eigenartige, einem Filmschnitt ähnliche Protokollsituation, die Zeitsprünge (aus der Gegenwart heraus) erlaubt:

Im Efeu an der Sichtschutzwand lärmen die Spatzen, und eine SMS von Natascha kommt an. Ob es in einer Stunde passe, es gebe etwas Wichtiges zu besprechen. Ja, gern, schreibe ich zurück.
Ich sehe ihr zu, wie sie prüfend und mit unverhohlener Neugier durch meine Wohnung streicht, durch die große Küche und die zwei etwa gleich großen Zimmer, dann das Bad und zurück in die Küche, wo sie die Tür zum Balkon öffnet, rausschaut und die Tür sogleich wieder schließt.

Außergewöhnlich für das distanzlose, meist actiongeladene Gegenwartserzählen werden hier einfach Lücken gerissen, bspw. vergeht zwischen den zitierten Absätze ziemlich genau eine Stunde, in der im Bewusstseinsstrom der Erzählerin nichts passiert. Dies lässt sich als eine Entfremdung der Psyche mit sich selbst lesen, als existierte in dem erzählenden Ich eine Instanz, die sich ein- und ausschaltet, je nachdem, ob etwas von Interesse passiert oder nicht. Eine kompositorische Instanz, die verdichtet, fehlt hier völlig. Sie existiert nur im Rückblick.

Zudem werden die meisten Szenen nur angerissen, nur kurz angedeutet. Der kurze Text umfasst 31 Kapitel, im Schnitt mit weniger als zehn Seiten, und jedes Kapitel beschreibt meist eine Szene mit einer Erinnerungsphase, so dass die Zeitlücken innerhalb des Textes einen zunehmenden Hiatus-Charakter erhalten, der arhythmisch, achronisch das Erzählte der Beliebigkeit preisgibt, fast, als wäre ein Zufallsgenerator im Spiel, der sich mal zu-, mal von Linda wegschaltet und über die Länge dem Text auf diese Weise den Anstrich eines Rohmaterials verleiht.

Die Distanz, das Naturalistische, das Ungebrochene hämmert auf diese Weise die Trauer Lindas ins Bewusstsein, ohne diese aber stilistisch, literarisch zu durchdringen. Ungefiltert, roh, hart wie der Schmerz bleibt alles für sich, vereinzelt, aufgelöst, „zerbröselt“ bestehen, während die Ich-Erzählweise bei Krien ihren literarischen Offenbarungseid leistet. Zwischen Émile Zolas „Der Totschläger (L’assommoir)“, naturalistisch-tragisch-brutal, und Paulo Coelhos „Veronika beschließt zu sterben“, melodramatisch-illustrativ-pittoresk, entscheidet sich Daniela Krien also konsequent für die Coelho-Seite.

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