Doris Wirth: „Findet mich“

Ein Familienvater vergeblich auf der Flucht, narrativ den Brüchen entlang erzählt. (Deutscher Buchpreis-Longlist)

Doris Wirths Roman Findet mich nimmt das Thema Familie, Eltern, Eltern-Kind-Beziehung auf und behandelt eine Art fiktiv-biographisches Spektakel einer Tochter, die sich keinen Reim auf das Verhalten ihres Vaters Erwin machen kann. Erwin, verrückt, überanspruchsvoll, pflichtbewusst, besessen, doch vom eigenen Vater kleinhalten, hat Schwierigkeiten, sich am Riemen zu reißen:

Sie knöpft sein Hemd auf, aber er hält ihre Hände fest, zieht seinen Gürtel aus und schnürt ihn eng um ihre Handgelenke. Sie schaut ihn an, nicht ängstlich, eher spöttisch scheint ihm, und das erhitzt sein Gemüt und sein Geschlecht.
»So einer bist du«, sagt sie, und er sagt: »Ich weiß nicht, was für einer ich bin, das wird sich noch zeigen, und jetzt sei besser still.«
Sie lacht, da wirft er sie aufs Bett und reißt ihr Hose und Unterhose von den Beinen.

„Doris Wirth: „Findet mich““ weiterlesen

Jean de Palacio: „Das Porträt“

Das Porträt von Jean de Palacio.

Hochverdichtete, literarische Hymne auf die Sprache und Angst vor ihrem Niedergang.

Jean de Palacio, geboren 1931, widmet sich seit der Emeritierung von seiner Professur für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paris-Sorbonne dem literarischen Schreiben. Im Alter, wo viele aufhören, beginnt de Palacio literarisch zu publizieren. Das Porträt fand seinem Weg in die Öffentlichkeit als sein Autor geradewegs auf die achtzig zuging (2009). Es handelt von einem Linguisten, der absterbende Sprachen zu retten versucht:

Die Verben waren besonders bedroht, einige ihrer Modi wurden attackiert: im Partizip Präsens und besonders im Infinitiv wurden sie zur Beute von Wundbrand und Mehltau, heimgesucht von Konidien und Oosporen, dabei wurden ihre alphabetische Ordnung und ihr Sinn durcheinandergebracht und die Zukunft des Sprechens verschattet.

„Jean de Palacio: „Das Porträt““ weiterlesen

Daniela Krien: „Mein drittes Leben“

Melodramatisch-gestaltete Traumabeschreibung mit angezogener Handbremse, andeutungsweise, erzählt.

Nach „Der Brand“ aus dem Jahr 2021 legt Daniela Krien, Gewinnerin des Sächsischen Literaturpreises 2020, mit „Mein Drittes Leben“ ihren neuen Roman vor. Wie „Der Brand“ spielt er hauptsächlich auf dem Land, in der Nähe von Leipzig, befindet sich die Ehe der Protagonistin in einer Krise, kümmert sie sich um einen gemieteten Bauernhof und versucht in der Abgeschiedenheit vom Großstadtrummel ihr Leben wieder in eine Bahn zu bringen:

Mit den Sinnsprüchen auf den Vorderseiten überbrückt [meine Mutter] die eigene Sprachlosigkeit. Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du heute von Neuem beginnen. (Buddha) – Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorüber, in der man kann. (Marie von Ebner-Eschenbach) – Es sind die Begegnungen mit Menschen, die das Leben lebenswert machen. (Guy de Maupassant) Aber hier, in meinem dritten Leben, sind es nicht die Menschen. Es sind die Tiere und die Pflanzen und der Wind und die Bilder der Toten an den Wänden.

„Daniela Krien: „Mein drittes Leben““ weiterlesen

Fang Fang: „Glänzende Aussichten“

Erbarmungslos dicht erzählt. Narratives Glanzlicht.

Fang Fangs Roman Glänzende Aussicht stammt aus dem Jahr 1986 und wurde 1987 das erste Mal publiziert. Es steht im Zusammenhang mit anderen Versuchen, die Ästhetik des Sozialistischen Realismus, bspw. Nikolai Ostrowskis Wie der Stahl gehärtet wurde , zu überwinden, also der literarischen Aufarbeitung der real-existierenden sozialistischen Gegenwart neue Impulse zu verleihen. Ein vergleichbarer Versuch fand durch Christa Wolf und ihr Romanexperiment Nachdenken über Christa T. statt, nur hier, bei Fang Fang rollt der narrative Faden durchweg flüssig, wohingegen dieser bei Wolf holpert und stolpert. Fang fällt mit der Tür ins Haus. Zu viel gibt es zu erzählen, als dass sie hinter dem Berg halten könnte:

Bruder Sieben ist inzwischen groß und dick geworden. Auf seinem Gesicht liegt gewöhnlich ein öliger roter Glanz. Sein Bauch wölbt sich auf angemessene Weise ein wenig vor. Ich kann es mir schwer vorstellen, dass dieser Fleischberg noch immer von seinem ursprünglichen Knochenklappergerüst getragen wird und hege den Verdacht, dass man bei der Operation, der er sich als Zwanzigjähriger unterziehen musste, nicht seinen Blinddarm entfernt, sondern seine Knochen ausgetauscht hat. Anders lässt sich die Tatsache, dass er danach immer fettleibiger wurde, kaum erklären.

„Fang Fang: „Glänzende Aussichten““ weiterlesen

Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“

Literarisches Entspannungsprogramm für den Strandurlaub mit ein paar gewollt-erscheinenden Denkanstößen

Saša Stanišić‘ neuestes Buch Möchte die Witwe angesprochen werden … stellt eine Art beliebig erweitbarer Roman dar. Es beginnt mit einer futuristischen, fast Stanislaw Lem’schen Aussicht auf eine Zeitreisemaschinen-Erfindung, die parallele Lebenswege, je nach Entscheidungsstand, vorhersehbar werden lässt, und bei Gefallen, gegen einen gewissen Aufpreis, festgelegt werden kann. Von dieser Erfindung an werden nun verschiedene Lebenswege präsentiert, bspw.:

„Saša Stanišić: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne““ weiterlesen

Hiroko Oyamada: „Das Loch“

Gespenstisch-lustgeladene Imaginationen im Abseits. Traumnovelle auf Japanisch.

Oyamadas Kurzroman steht klar in Kontext zu Haruki Murakami aus bspw. Die Stadt und ihre ungewisse Mauer und Sayaka Murata in Das Seidenraupenzimmer und Die Ladenhüterin. In Oyamadas Text spielt auch die Differenz Stadt/Land, Kinder und Kinderlosigkeit, Beruf und Arbeitslosigkeit eine Hauptrolle. Die Protagonistin heißt Asahi und irgendwie läuft ihr Leben nicht wirklich so, wie sie es sich vielleicht vorgestellt hat, insbesondere ihre Ehe zu Muneaki nicht, der im Grunde nur an seinem Handy hängt:

»Meinst du, deine Mutter denkt, ich sei fest angestellt?«
»Nein, das weiß sie, glaube ich …« Die Finger meines Mannes fuhren in Windeseile über die Tasten [seines Handys]. Es hat Zeiten gegeben, als ich wissen wollte, was er so treibt, aber mittlerweile interessiert es mich kaum mehr: Solange er nicht in kriminelle Machenschaften oder sexuelle Exzesse verwickelt ist, muss ich nicht im Einzelnen erfahren, worüber er sich mit seinen mir unbekannten Freunden austauscht.

„Hiroko Oyamada: „Das Loch““ weiterlesen
Die mobile Version verlassen