Caroline Wahl: „Windstärke 17“

Windstärke 17

Wutbrausend, heimatlos an der Ostsee, zwischen allen Stühlen, einem neuen Ich entgegen.

Caroline Wahls zweiter Roman, nach 22 Bahnen, hat wiederum eine Zahl im Titel und heißt Windstärke 17. Handelte der erste Roman von Tilda, die sich um die jüngere Schwester Ida und ihre alkoholsüchtige Mutter kümmert und ihre ersten Schritte in Richtung Freiheit unternimmt, so nimmt der zweite Idas Jungerwachsenenzeit in Augenschein, nachdem die Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben ist:

Während ich die Fröhlichstraße entlanglaufe, google ich, was »Arschloch« auf Norwegisch heißt: Drittsekk. Dann google ich »Entrümpelung«, vor allem weil ich den Blicken in den Fenstern nicht begegnen möchte. Den Blicken der Drittsekker, die sich das Maul zerreißen über die Tochter der toten Alkoholikerin aus dem traurigen Haus, die viel zu leicht bekleidet, in einem kurzen Rock, einer pinken Lederjacke und mit einer großen schwarzen Sonnenbrille trotz des grauen Himmels, einen kaputten, alten marineblauen Koffer hinter sich herzerrt und auf ihrem Handy herumtippt, anstatt freundlich zu grüßen. Immer am Handy, diese Generation.

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Marc-Uwe Kling: „Views“

Views

Knallharte Kurzsprache, die direkt zum Ziel führt. Wer zögert, verliert. Digitales High-Noon in Dürrhahnbach.

Literatur streift stets die Frage, wann Fiktion zur Intervention, wann Imagination zur Realisation wird. Benjamin Stuckrad-Barres Noch wach? stellt diese Frage explizit, Constantin Schreiber in Die Kandidatin verkappt als Prophetie, und Sibylle Berg in RCE: #RemoteCodeExecution schließlich als erwünschte Utopie. Marc-Uwe Kling, so scheint, betreibt einen ernsthaften Jux in VIEWS und rüttelt das Genre des Agitprop etwas familientherapeutisch durch:

Ist Yasira nicht auch selbst voller Widersprüche? Eine emanzipierte Frau, die kitschige Musicals liebt. Eine Polizistin, die Autoritäten infrage stellt. Ist nicht jeder nur ein Haufen mit Panzertape umwickelter Widersprüche?

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Abdulrazak Gurnah: “Das versteinerte Herz”

Schockierend zäh, diffus, orientierungslos erzähltes Familiendrama ohne Twist und Formwillen.

Mit Das versteinerte Herz liegt nun auch der neunte Roman des Nobelpreisträgers für Literatur aus dem Jahr 2021, Abdulrazak Gurnah, in deutscher Sprache vor. Im Original 2017 erschienen, behandelt der Roman die Kindheit und Jugend Salim Masud Yahyas, dessen ersten Schritte in das Erwachsenenleben auf Sansibar, später in London und dann Brighton und lässt sich als Coming-of-Age-Roman betrachten, mit starkem Fokus auf die elterlichen, familiären Umstände des Aufwachsens und sexuellen Erwachens:

Während sie mir das Hemd aus dem Hosenbund zog und ihre Hand in meine Jeans schob, sagte eine [von den jungen Frauen auf den Partys], sie würde mit mir schlafen, wenn ich nicht schwarz wäre, aber da ich es nun mal sei, würde leider nichts daraus. Ich fragte sie, ob sie mit einem Chinesen schlafen würde. Sie überlegte kurz und bejahte, dann knutschte sie mich weiter, und ich leistete keine Gegenwehr, obwohl mein Ehrgefühl natürlich verlangt hätte, dass ich sie wegstoße und hoch erhobenen Kopfes gehe.

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Nele Pollatschek: “Kleine Probleme”

Ein Neujahrsmärchen, das selbstzufrieden, über winzige Hindernisse hinweg, ins Ziel holpert.

Der Widerspenstigen Zähmung in Kleine Probleme steht nicht viel im Wege. Lars, der behäbige, verwirrte, trantütige 49-jährige Protagonist, muss keine herkulischen Aufgaben meistern. Wie in der Legende von Herkules stehen, von der genossenen Zweisamkeit am Schluss abgesehen, zwölf Aufgaben vor Lars, bspw: das Zusammenbauen eines Ikea-Möbels; das Anfertigen eines veganen Nudelsalates; das Einpacken von Geschenken oder das Beenden der Steuererklärung. Im Gegensatz also zum nemeischen Löwen, zur kerynitischen Hirschkuh oder dem erymanthischen Eber gerade zu mondäne Herausforderungen. Lars weiß sich aber zu helfen, um das Mögliche geradezu zu verunmöglichen, hier im Falle von Schrauben und Dübeln beim Fertigmöbelzusammenbau:

Vor mir lagen keine nummerierten Schräubchen, keine namenlosen Holzdinger, keine seelenlosen Plastikteile und erst recht keine 10904wasauchimmer. Vor mir lagen, in sauberen Grüppchen, glänzend und glimmend, wie frisch gebadet, zweiunddreißig Hoshis und vierundzwanzig Knülpe, vier Schlitzlinge und vier Plötze, gleich vierzig Pleumel, achtunddreißig Holzflonze und dreißig wagemutige Wüs, daneben fünfzig Wörle, zehn Plastikniezen mit großen weißen Hüten und viel zu zarten Rippen, drei lange Sporne und sechzehnmal, mit glänzenden Ringen und erhabenem Kreuz, Henriette Hannelore von Hoffmannsthal, holde Henriette, ach Henriette, ach Johanna, wenn du mich jetzt sehen könntest.

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