Marc-Uwe Kling: „Views“

Views

Knallharte Kurzsprache, die direkt zum Ziel führt. Wer zögert, verliert. Digitales High-Noon in Dürrhahnbach.

Literatur streift stets die Frage, wann Fiktion zur Intervention, wann Imagination zur Realisation wird. Benjamin Stuckrad-Barres Noch wach? stellt diese Frage explizit, Constantin Schreiber in Die Kandidatin verkappt als Prophetie, und Sibylle Berg in RCE: #RemoteCodeExecution schließlich als erwünschte Utopie. Marc-Uwe Kling, so scheint, betreibt einen ernsthaften Jux in VIEWS und rüttelt das Genre des Agitprop etwas familientherapeutisch durch:

Ist Yasira nicht auch selbst voller Widersprüche? Eine emanzipierte Frau, die kitschige Musicals liebt. Eine Polizistin, die Autoritäten infrage stellt. Ist nicht jeder nur ein Haufen mit Panzertape umwickelter Widersprüche?

Yasira, ihres Zeichen BKA-Kommissarin, hat einen schweren Stand. Weder erfüllt sie ihre Karriere, noch ihre Rolle als Mutter, noch gibt es Trost im Privatleben. Irgendwie erscheint alles irreal, in Schwebe, nicht wirklich da und auch nicht wirklich weg zu sein, und dann, während eines Blind-Dates erscheint das Video der vermissten Lena Palmer, das das Date zum vorzeitigen Aus bringt und Bundesrepublik weit eine Welle der Gewalt lostritt. Das explizite Video zeigt nämlich, wie Lena Palmer von einigen Immigranten vergewaltigt wird. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Nur hat Yasira von Anfang an einen strukturellen Nachteil: Während alle Welt glaubt, was sie glauben wollen, fühlt sie sich der Wahrheit verpflichtet:

»Haben Sie in all Ihren Businessplänen, Machbarkeitsstudien und Strategiemeetings auch nur einmal darüber nachgedacht, was Sie da eigentlich entfesseln?«, fragt Yasira. »Haben Sie sich auch nur einmal nicht nur gefragt: ›Wie?‹, sondern auch ›Sollten wir überhaupt?‹? Haben Sie eine Vorstellung davon, was das mit der Welt macht, wenn man Bildern nicht mehr glauben kann?«

Kling arbeitet in VIEWS mit Protokollsätzen und Rumpferzählweisen. Die Erzählzeit vollzieht sich in szenischer Echtzeit, d.h. es gibt kaum kondensierende, reflektorische Pausen, kaum summarisches Selegieren und fiktionales Umbilden von Ereignissen zu sprachlichen Bildern. Der fiktionale Raum selbst erscheint wie der Liveticker eines Fußballspiels, der dann wie ein Teleprompter vor den Augen das Spiel auf den kleinsten Nenner bringt: das Ergebnis, also die Zahl der geschossenen Tore. Bei Kling liest sich das so:

Es ist wieder Mittwoch. Vor einer Woche hatte sie ihr Date mit Stefan. Vor einer Woche hat sie das Video zum ersten Mal gesehen. Yasira liegt im Bett und will nicht aufstehen. Es ist diese unfassbare Gleichzeitigkeit von allem, die ihr zu schaffen macht. Die verschwundene Lena, die Sorge um ihre Tochter, um ihre Karriere, die Kriege, der Terror, der Wunsch, mal wieder Sex zu haben […]

Die Hochgeschwindigkeitslektüre rast ihrem Ende entgegen, das aber tatsächlich, kurz vor Schluss, mit einem kleinen Augenöffner aufwartet. Das war’s aber schon. Bevor es so richtig beginnt, ist es vorbei, und Yasira verschwindet in den endlosen Jagdgründen eines weißen Hintergrundrauschens. Wer war diese Person eigentlich? Fragen dieser Art stellt VIEWS nicht. Die Auflösung des Rätsels besteht in der Auflösung der gegenwartsgesättigten Zurechenbarkeit. Sobald alles nur noch Schall und Rauch wird, nicht nur die Namen, verschwindet das Fiktionale und das Diskursive bleibt übrig als politischer Kommentar. Wer mag, stimmt zu, wer nicht nicht. Mit seiner Meinung hält Kling in VIEWS jedenfalls nicht hinterm Berg. Mit Friedrich Dürrenmatts Die Physiker im Rücken heißt es blinkend-grell: „Achtung“; oder mit Johann Wolfgang Goethes Der Zauberlehrling zu sagen: „Die Geister, die ich rief, wird‘ ich nun nicht los.“

Marc-Uwe Kling will zum bunt-lauten Stimmengewirr beitragen und die Diskussionen aufmischen. Literarische Mittel, so scheint es, wären hierfür zu leise und verspielt gewesen. Wahrscheinlich hat er sogar damit recht gehabt.

Inhalt: 2/5 Sterne (Hetzjagd mit Twist)
Form: 1/5 Sterne (keine)
Komposition: 1/5 Sterne (szenischer Liveticker)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (zu schnell vorbei)

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