Anna Katharina Fröhlich: „Die Yacht“

Sommerfrische Unabhängigkeitserklärung in Sizilien. Eine Künstlerin auf inspirierenden Abwegen.

Der Mythos Italien geistert ständig in der deutschen Literatur herum, damals wie heute, von Johann Wolfgang Goethes Italienische Reise über Thomas Manns Der Tod in Venedig hin zu, bspw., eben Anna Katharina Fröhlichs Die Yacht. Die Lebensfreude und Lebenskunst Italiens stellt so etwas wie ein dauerhaftes, dem Unbewussten verschwistertes Sehnsuchtsziel dar, das idealisiert, dennoch als Utopie, Imaginationsräume öffnet:

Eingelegte Sardinen, Lakritzstangen, Käsereiben, Handsicheln, Töpfe und Berge von Slips lockten die Blicke. In die Rufe der Händler mischten sich Taubengurren und Hundegebell. Eine Unterwäscheverkäuferin in mit Goldschmetterlingen geschmückten Sandalen fächerte sich mit einer Zeitung etwas Luft zu [… Hier] machte sich an Markttagen durch Schreie, heftige Gesten, unwirsche Blicke und lautes Gelächter eine uralte Wildheit im Menschen Luft. Martha sah einmal eine monumentale Russin in zerrissenen Jeans, die mit der Stimme eines Stammeshäuptlings auf einen schmalen Mann einbrüllte, der kraftlos zwischen ihren Händen hing.

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Nastassja Martin: „An das Wilde glauben“

Sprachlich-inhaltlich eine Wucht, die aber in alle vier Himmelsrichtungen gehaltlos zerplatzt.

An das Wilde glauben poetisiert eine Realerfahrung. Die französische Anthropologin Nastassja Martin wird in den Bergen von Kamtschatka, auf einer Vulkan-Expedition, von einem Bären schwer verletzt. Der Bär beißt ihr ins Gesicht, woraufhin sie zuerst in Russland, dann Frankreich mehrfach operiert werden muss. Danach fühlt sie sich so stark vom Alltag, ihrer Arbeit und von ihrem Freundeskreis und ihrer Familie getrennt und entfremdet, dass sie zurück nach Kamtschatka fliegt, um sich bei dem Volk der Ewenen zu heilen, zu regenerieren, auch in der Hoffnung, dort auf Verständnis zu treffen:

[Darja] flüstert: Manchmal machen bestimmte Tiere den Menschen Geschenke. Wenn sie sich gut verhalten haben, wenn sie ihr Leben lang gut zugehört haben, wenn sie nicht zu viele schlechte Gedanken genährt haben. Sie senkt den Blick, seufzt leise, hebt den Kopf und lächelt wieder: Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, in dem sie dich am Leben gelassen haben.

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Stephan Schäfer: „25 letzte Sommer“

Stilistisch hilfloser Versuch, sich mit dem leeren Leben zu versöhnen.

25 letzte Sommer von Stephan Schäfer gehört zur sogenannten Erbauungsliteratur, die bewusst, fast obszön schlicht mit Fokus auf Innerlichkeit und Reinheit, ohne begriffliche Dogmatiken, gesteigertes Glaubens-, Lebens- und Frömmigkeitsgefühl anstrebt. Stephan Schäfers Erzählstimme sucht den Sinn, und er findet ihn auf dem Kartoffelfeld eines Kartoffelbauerns namens Karl:

Demnach verbringt der Deutsche durchschnittlich täglich circa zehn Stunden vor dem Computer, Smartphone oder Fernseher. In vierzig Jahren summiere sich das auf achtzehn Jahre.
»Also drastisch mehr Zeit, als man in der Regel mit einem lieb gewonnenen Menschen verbringt«, sagte Karl und ließ die Studie unkommentiert im Raum stehen.
Natürlich wusste ich, was er mir insgeheim damit sagen wollte. Seine Botschaft war vorsichtig verpackt, aber gleichzeitig charmant und herausfordernd. Karl lächelte mich milde an.
»Komm, ich zeig dir mein Kartoffelfeld.«

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Valerie Fritsch: „Zitronen“

Elegisch-mythomanisch aufgebautes narratives Kartenhaus, das sang- und klangvoll zusammenfällt.

Valerie Fritsch legt mit Zitronen abermals einen sentimental-stoisch aufgeladenen, barocken Roman vor, der mit lyrisch aufgeladenen Sätzen eine grausige, erkaltete bukolische Dystopie beschreibt und so an ihren 2015 erschienen Roman Winters Garten anschließt, der ihr zum Durchbruch verhalf. Abermals steht eine agrarisch-gefärbte Welt, eine Familie im Zwiespalt und eine dunkle Romantik im Vordergrund:

Nun war es ein Unterstellplatz für die Menschen, eine Garagenkapelle ohne Kanzel, eine Rumpelkammer mit Volksaltar und blecherner Monstranz, voll von Ikonenbildchen, abgebrannten Kerzen und den Ramadan-Laternen des letzten Zuckerfests. Die blauen Augen starrten lidlos gegen den bösen Blick. In einer Schatulle in Form einer Hand, die wie das Endglied eines unsichtbaren Arms schwer auf einer Holzkiste lag, war Gerüchten zufolge die Fingerkuppe eines Heiligen verwahrt, aber als jemand sie nach Jahren öffnete, fand sich nichts als eine tote Fliege darin.

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Paul Auster: „Baumgartner“

Verheerend dissoziativ. Ein Erinnerungsgefüge mit postmodernen Erzählkitsch.

Paul Auster schreibt mit Baumgartner ein Buch übers Altern. Seymour Tecumseh Baumgartner, emeritierter, siebzigjähriger Philosophieprofessor, lebt nach dem Unfalltod seiner Gattin Anna Blume allein und vertreibt sich seine Zeit damit, Bücher zu schreiben, seiner Gattin nachzutrauern und ihr bislang unveröffentlichtes lyrisches und autobiographisches Gesamtwerk zu verlegen:

Wo seid Ihr Mrs. Dolittle
und wenn Ihr fort seid für immer
kann mir bitte jemand sagen
warum dieser Wicht da drüben
mich über die Straße hin angrinst
im Knopfloch was kleinwinzig Rotes
das glüht wie ein Streichholz im Dunkeln.

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