Valerie Fritsch: „Zitronen“

Elegisch-mythomanisch aufgebautes narratives Kartenhaus, das sang- und klangvoll zusammenfällt.

Valerie Fritsch legt mit Zitronen abermals einen sentimental-stoisch aufgeladenen, barocken Roman vor, der mit lyrisch aufgeladenen Sätzen eine grausige, erkaltete bukolische Dystopie beschreibt und so an ihren 2015 erschienen Roman Winters Garten anschließt, der ihr zum Durchbruch verhalf. Abermals steht eine agrarisch-gefärbte Welt, eine Familie im Zwiespalt und eine dunkle Romantik im Vordergrund:

Nun war es ein Unterstellplatz für die Menschen, eine Garagenkapelle ohne Kanzel, eine Rumpelkammer mit Volksaltar und blecherner Monstranz, voll von Ikonenbildchen, abgebrannten Kerzen und den Ramadan-Laternen des letzten Zuckerfests. Die blauen Augen starrten lidlos gegen den bösen Blick. In einer Schatulle in Form einer Hand, die wie das Endglied eines unsichtbaren Arms schwer auf einer Holzkiste lag, war Gerüchten zufolge die Fingerkuppe eines Heiligen verwahrt, aber als jemand sie nach Jahren öffnete, fand sich nichts als eine tote Fliege darin.

Was gut beginnt, muss nicht gut enden: August Drach, der Protagonist aus Zitronen, muss dies am eigenen Leibe erfahren, wie seine eigene Mutter mehr und mehr dazu übergeht, ihn mit kriminellen Methoden, nämlich mit Medikamenten und Giften, krank und damit von ihr abhängig zu halten. Nach dem plötzlich Verschwinden seines brutalen, ihn und seine Mutter prügelnden Vaters wird die Zweisamkeit so schnell zur Hölle. Erst ein Blitzschlag befreit August:

Mit einem Mal hatte es ein Krachen gegeben, so laut, dass das Trommelfell gerade nicht platzte, und ein Rauschen in den Ohren, das jeden Ton außerhalb der eigenen Haut verschluckte. Eine Helligkeit hatte die Welt erfasst, und ein Licht war August in den Körper gefahren, dass sein Herz flimmerte und aus dem Rhythmus fiel, zu dem der Mensch tagein, tagaus marschierte.

Sprachlich dicht, intensiv beschrieben beschreibt Fritsch in rhythmisch-fließender Prosa, wie August durch die Welt irrt. Als Kind dem Vater ausgeliefert, als Jugendlicher vergiftet von der Mutter, und als Erwachsener dann in einer Großstadt, als Barkeeper, der seine Eifersucht gegen seine Partnerin und Ehefrau nicht mehr im Zaum halten kann und selbst gewalttätig wird, um dann, im nächsten Schritt, sich an seiner krebskranken Mutter zu rächen. Es handelt sich bei Zitronen also um eine Rachegeschichte, und so um eine psychologische, mythologisch aufgeladene Täterstudie, die anfangs noch durch Zeitraffung und Bildlichkeit besticht, am Ende jedoch ins Konstruierte ausufert.

Ab dem Moment, wo die narrativen Sprünge und perspektivischen Dissonanzen überhand nehmen, klar wird, dass die Erzählung einen Täter beschreibt, der quasi zur Gewalt erzogen wurde, verliert der literarische Schwung Zitronen vollends, denn der Ton, die elegisch-sentimentale Stoizität passt hier nicht mehr als Atmosphäre und schlägt um ins Psychologisch-Triviale:

Er hasste sich selbst nicht konsequent genug, war nichts weiter als ein gewöhnliches Arschloch. Schon bevor er das Falsche tat, wollte er, dass ihm verziehen wurde.

So etwas bricht die narrative Illusion. Die Erzählweise erinnert an ein Gleiten, Dahintreiben, ohne Widerstände, stoisch, fließend, ozeanisch. Je länger aber Zitronen andauert, desto klarer wirkt eine Intention und Konstruktion in die erzählte Welt hinein, desto bemühter gerät das Psychogramm und Programm und desto beliebiger erscheinen auch die Szenen und die Abfolge derselben prätentiös. Mit hastigen Strichen wird Augusts Welt dann abgehandelt. Vieles bleibt unklar. Vieles vage. Vieles einfach nur angedeutet. Da hilft die verschnörkelte Sprache nicht mehr über die Leere der Erzählung hinwegzutäuschen. Seine eigen Figur zu verraten, heißt die Erzählung selbst zu destruieren. Zumindest dies gelingt, fast mit postmoderne Verve, Valerie Fritsch in Zitronen ganz formidabel: August mag am Ende niemand(en) mehr.

Inhalt: 4 (fatalistische Rachegeschichte)
Form: 5 (mythomanisch-ornamentale Sprache)
Komposition: 2 (dissonant ausgewuchtet)
Leseerlebnis: 1 (selbstironisch plakativ)

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