Paul Auster: „Baumgartner“

Verheerend dissoziativ. Ein Erinnerungsgefüge mit postmodernen Erzählkitsch.

Paul Auster schreibt mit Baumgartner ein Buch übers Altern. Seymour Tecumseh Baumgartner, emeritierter, siebzigjähriger Philosophieprofessor, lebt nach dem Unfalltod seiner Gattin Anna Blume allein und vertreibt sich seine Zeit damit, Bücher zu schreiben, seiner Gattin nachzutrauern und ihr bislang unveröffentlichtes lyrisches und autobiographisches Gesamtwerk zu verlegen:

Wo seid Ihr Mrs. Dolittle
und wenn Ihr fort seid für immer
kann mir bitte jemand sagen
warum dieser Wicht da drüben
mich über die Straße hin angrinst
im Knopfloch was kleinwinzig Rotes
das glüht wie ein Streichholz im Dunkeln.

Der kurze, knapp zweihundert Seiten lange Roman, besteht im Wesentlichen aus drei Teilen mit jeweils drei Frauen im Zentrum des Geschehens. Im ersten Teil dreht sich alles um Anna, um ihren Tod, ihre hinterlassenen Schriften, die Trauer, die Leere, die sich in Baumgartner breitmacht und endet, als er einen mysteriösen Anruf aus dem Jenseits erhält. Danach, im zweiten Teil, ändert sich der Ton. Baumgartner möchte nochmals heiraten, nämlich die sechzehn Jahre jüngere beste Freundin Judith, die gerade einer toxischen Ehe entkommen ist. Diese gelungenste Passage in Austers Baumgartner gibt der Figur Zeit und Raum, sich an seine Familie und ganzes weitere Leben zu erinnern:

Statt also weiter in die weißen Wolken und den blauen Himmel und das grüne Gras zu starren, macht Baumgartner die Augen zu, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, richtet das Gesicht zur Sonne und versucht, sich zu entspannen. Die Welt ist eine rote Flamme auf seinen Augenlidern. Er atmet ein und aus, ein und aus, zieht Luft durch die Nase ein und lässt sie durch halb geöffnete Lippen wieder ausströmen, und nach zwanzig oder dreißig Sekunden sagt er sich, lass die Erinnerungen kommen.

Im letzten und dritten Teil kommt die Studentin Beatrix „Bebe“ Coen ins Spiel , die laut einem Kollegen von Baumgartner arg an die junge Anna Blume erinnert. Sie möchte eine Dissertation über Baumgartners Frau anfertigen und erfragt Zugang zum unveröffentlichten Material, die ihr Baumgartner gerne gewährt. In sehr einfach gehaltenen Stil plaudert das Buch von Baumgartners Leben, im ersten Teil sehr inkohärent und unentschlossen, im zweiten, vertiefend, mit groben, überzeugenden Strichen ganze Lebensläufe skizzierend, im dritten dann aber wieder ironisch, halbherzig, trocken, bis zuletzt das Simulacrum eines offenen allegorischen Textes inszenierend:

Gleichwohl trägt er diese seltsamen Bilder seit Jahren mit sich herum, Millionen und Abermillionen Körper-Seelen in ihren Autos auf gigantischen, miteinander verbundenen Straßen und Highways, jeder einzelne hinter dem Steuer eine menschengroße Monade, eingeschlossen in das metallene Exoskelett eines insektengleichen Autos, jeder Mann und jede Frau dieser ungezählten Heerscharen allein inmitten fließenden, oft gefährlichen Verkehrs, und der Körper hinter dem Steuer, der auch Geist oder Seele oder Intelligenz ist, trägt die Verantwortung für Hunderte kleine und große Entscheidungen, die das Auto letztlich ans Ziel bringen.

Das Auto als Versinnbildlichung des Leib-Seele-Dualismus, absurd identisch angelegt an Platons Seelenwagen aus seinem Phaidros Dialog, nach welchem die Seele geflügelte Wagenlenker seien, die mit größter Not die Kutsche (den Körper) auf dem Weg halten zu halten vermögen, stellt nur eines der vielen direkten und indirekten Zitate im Text dar, z.B. auch, dass Baumgartner und Blume mit verteilten Rollen an Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir erinnern, Karl Schwitters Gedicht An Anna Blume … etc.

Postmodern-montierend rattern die Seelen unentschlossen und mit gestutzten Flügeln durch Paul Austers Baumgartner. Es ist weder ein Erinnerungs- noch ein Liebesroman, weder philosophisch reflektierend noch essayistisch plaudernd, weder melancholisch noch sentimental, weder optimistisch noch pessimistisch, komödiantisch oder tragisch, sondern eher, leider, alles und irgendwie nichts davon.

Erzählerisch schlägt sich die Hilflosigkeit vollends nieder, wenn das personale Erzählen brüchig in ein postmodern ironisches auktoriales Plaudern umschlägt, also die Handlung, als Traum oder als Illusion oder Ereignis darstellt, und der Geschichte so jeden narrativen, d.h. glaubwürdigen, immersiven Zauber raubt: Es könnte ja alles auch wieder ganz anders sein. Kompositorisch eine Bankrotterklärung. Mache jeder also sein Eigenes daraus, nur benötige ich hierfür, vor allem bei diesem alltäglichen, beinahe nicht existierenden Ostküsten-Intelligenz-Setting, nun wirklich keine Romanvorlage dafür.

Inhalt: 2/5 Sterne (gehobenes Rentnerdasein)
Form: 3/5 Sterne (flüssige, bis intensive, doch einfache Sprache)
Komposition: 1/5 Sterne (erzählerische Beliebigkeit)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (anspruchslose Selbstironie)

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