Sjón: „nachtarbeit“

Prosalyrik in einer brüchigen Welt, harmonisch zusammengestellt, hintergründig und textlich entrückt.

Texte wie die von Sjón pendeln zwischen Prosa und Lyrik, zwischen Impressionen und Reflexionen. Sie stellen sich hinlänglichen Kategorien quer und mischen verbohrte Gedankenstrukturen auf. Ihr Sinn liegt in den verborgenen unausgefüllten Zeilen, die viel Platz auf jeder Seite lassen, aber als Raum, als Ort der Besinnung gelten können. „Nachtarbeit“ dreht sich um die Feststellung, dass es diese Leerstellen im Gedankengefüge gibt:

Federn von größeren Vögeln hat man als Schreibfedern benutzt. Man schnitt dazu die Spitze des Federkiels schräg an und schrieb mit ihr die Versuche des Menschen auf, zu singen. Die Federn des Singvogels mit seinen tausend Federn sind so klein, dass man mit ihnen nicht schreiben kann. Man kann sie auf der Fingerspitze des kleinen Fingers ruhen lassen und sagen, dass sie die Gedanken symbolisieren, die man niemals in Worte wird fassen können.

Wie das Textbeispiel zeigt, besitzen die Gedichte, Prosastücke aus “Nachtarbeit” einen inneren geheimnisvollen Rhythmus durch Wiederaufnahme, Weiterführung und Verästelung der Sinnbereiche miteinander. Um das Wort „Federn“ dreht sich das Schreiben. Es federt, d.h. es ist leicht, und diese Leichtigkeit fließt durch den Geist, umweht den Gedanken, und umspielt die Flausen, den Saum, das Federkleid des „Tausendfedern-Singvogels“, das den Poeten zum Schwelgen bringt, als wäre es nämlich durch diesen Vogel doch möglich, den eigenen Gedanken bruchlos, federflaumartig, Ausdruck zu verleihen.

Man kann sich dann fragen, ob ein Text der Art, von der hier die Rede ist, nur vollkommen verstanden werden kann (man darf ja träumen), indem man ihn in die Hand nimmt.

Gedichte wollen mehr als nur Laut und Klang sein. Sie streben nach Wortmaterialität und möchten in ihrer Widerborstigkeit die Gefühlswelt durchwühlen und zum Leuchten bringen. Sjón besitzt eine sehr freundliche, sanfte Art, den Bedeutungsschichten den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie fallen ins Bodenlose, und mit ihr das konzentrierte Lesen, das derweil konzentrische Kreise zu ziehen beginnt, weil der Text mehr zum Tanz, zur Bewegung, zum Körperlichen hinstrebt und einlädt als zum imaginär Imaginativen:

wenn du denkst dass ich dir ähnele
dann kennst du mich nicht
wenn du mich nicht kennst
bin ich dir ähnlicher denn je

Sjóns Reflexionen und Explorationen sind all jenen zu empfehlen, die die Sprache nicht als gegeben hinnehmen, die das Spiel mit Worten und Begriffen mögen, die das Wiederlesen bevorzugen, das Vertiefen, Hineinlegen, Mehrfachdenken schätzen. Die Leerstellen füllen sich nicht von alleine, aber ein Umriss lässt sich nach und nach erkennen, ein Schattenriss, von dem deshalb auch oft die Rede ist, ein Schatten, der zu leben beginnt, der Schatten eines Schattens, der der Mensch ist oder sein könnte.

„Nachtarbeit“ wartet mit überraschenden Prosastanzen auf, mit feinfühligen Gedichten, mit seltsam-zarten Stilblüten. Sjón benötigt ein geduldiges, bescheidendes, sich leichtmachendes Lesen und erinnert mich im Guten wie im Kunstsprech-Sperrigen an Philippe Jaccottets „Elemente eines Traumess“ oder an Edmond Jabès „Das Kleine Unverdächtige Buch Der Subversion“. Sehr eigenwillige, brüchige, ja diaphane Ausdrucksversuche, die im Zerstörten, Zerwühlten nach Sinnresten suchen und, meines Erachtens, tatsächlich auch finden.

Inhalt: 4/5 Sterne (Gedankengefüge)
Form: 5/5 Sterne (diaphane Rhythmuslyrik)
Komposition: 4/5 Sterne (strukturiert kreisend)
Leseerlebnis: 4/5 Sterne (kurz, sehr prägnant, nachflößend)

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