Nastassja Martin: „An das Wilde glauben“

Sprachlich-inhaltlich eine Wucht, die aber in alle vier Himmelsrichtungen gehaltlos zerplatzt.

An das Wilde glauben poetisiert eine Realerfahrung. Die französische Anthropologin Nastassja Martin wird in den Bergen von Kamtschatka, auf einer Vulkan-Expedition, von einem Bären schwer verletzt. Der Bär beißt ihr ins Gesicht, woraufhin sie zuerst in Russland, dann Frankreich mehrfach operiert werden muss. Danach fühlt sie sich so stark vom Alltag, ihrer Arbeit und von ihrem Freundeskreis und ihrer Familie getrennt und entfremdet, dass sie zurück nach Kamtschatka fliegt, um sich bei dem Volk der Ewenen zu heilen, zu regenerieren, auch in der Hoffnung, dort auf Verständnis zu treffen:

[Darja] flüstert: Manchmal machen bestimmte Tiere den Menschen Geschenke. Wenn sie sich gut verhalten haben, wenn sie ihr Leben lang gut zugehört haben, wenn sie nicht zu viele schlechte Gedanken genährt haben. Sie senkt den Blick, seufzt leise, hebt den Kopf und lächelt wieder: Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, in dem sie dich am Leben gelassen haben.

An das Wild glauben lässt sich als eine essayistische Improvisation rundum das Ereignis mit dem Bären verstehen. Intellektuell, reflektorisch, anthropologisch umkreist sie in einer Art rasenden-atemlosen, beinahe bewusstseinsstromartigen Monolog die Erinnerung an jene Begegnung, an diesen Moment, als noch der letzte Zweifel zerriss, dass Zivilisation zwar schützt, aber auch tötet, Intensität unterdrückt, verblendet, ja über das Leben starre-geistlose Entfremdung verhängt:

Zurück aus dem so ersehnten Niemandsland der Berge, des Gletschers, des Hochplateaus, das letztlich weniger verlassen war, als ich dachte, bleiben mir nur wenige Gewissheiten. Die Stabilität der Lebenden und der Dinge gerät mir ins Wanken, ihre Organisation in verständlichen und etablierten Systemen entgleitet mir, die Möglichkeit ihres Fortbestands wird mir fremd.

Jedwede Ordnung, jede Form eines System, jede Grenzziehung wird Teil eines Mythos, einer Grenzziehung, die eine unmittelbare Wahrheit hinter dem Schleier der Maja verbirgt. Martin springt in dieses Unmittelbare, Nackte, Rohe, Unvermittelte, indem sie in einem Gewaltakt jedwede Zurückhaltung verliert, Zeiten, Räume, Geschichte überschreitet, hinter sich lässt und die Erlösung im Gewaltakt eines Duells sucht:

Ich sage mir, dass ich auf der Hochebene wohl uneingestanden auf der Suche war nach demjenigen, der endlich die Kriegerin in mir offenbaren würde; dass dies sicher der Grund ist, warum ich, als er mir den Weg abgeschnitten hat, nicht vor ihm geflohen bin. Ich habe mich im Gegenteil in den Kampf gestürzt wie eine Furie und wir haben unsere Körper jeweils mit dem Mal des anderen gezeichnet.

Ähnlich roh wie George Bataille in Das Blau des Himmels und insbesondere in Die Aufhebung der Ökonomie mit seinem Begriff der Verausgabung sucht Martin nach einer reinen Welt, einem reinen, wirklichen, authentischen Sein. Wie Albert Camus‘ Protagonist Mersault in Der Fremde oder Mathieu in Jean-Paul Sartres Der Pfahl im Fleische sucht die Erzählstimme bei Nastassja Martin Freiheit in einem nicht wiedergutzumachenden, rücksichtslosen Akt der Gewalt. Ihre Sprache brodelt, rauscht, stiebt und steht zwischen allen Zeiten, ergeht sich in einem narrativ-allgegenwärtigen Präsens, das Raum und Zeit, erlebte Rede, direkte Rede, Erinnerung, Theorie, Zitat und Argument und Szene ineinander übergehen lässt.

In An das Wilde glauben murmelt, rauscht das Wort um das klappernde Gerüst einer negierten chthonischen Welt, das Pendel, das ausschlägt, todbringend wie eine Sense: schwarze Hefte/weiße Hefte, Mutter/Vater, Wildnis/Zivilisation, Bär/Mensch. Was hier passiert, gleicht einem Rausch – ob durch Drogen, Gewalt oder Sex induziert – diese surrealistische Verneblung lässt zwar alles zurück, macht semantisch tabula rasa, aber das war’s auch schon. Die gewaltbereite Suche geht weiter, denn die Ich-Erzählerin, das zeigt der Text sehr klar, bleibt mit allem und jedem im Krieg (siehe ihre Interaktion mit allen Figuren im Text). Sie will alles zugleich und bleibt unzufrieden, Repräsentation schlechthin des unglücklichen Bewusstsein bei Hegel, das eine Synthese in der Auflösung sucht.

Inhalt: 3/5 Sterne (monomanische Traumabearbeitung)
Form: 4/5 Sterne (mythisch angehauchter Sprachexzess)
Komposition: 1/5 Sterne (ungeordnet, wild)
Leseerlebnis: 1/5 Sterne (befremdendes Gruseln)

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